Kindergrundsicherung fehlt

Statistikamt: 15 Prozent der Minderjährigen sind »armutsgefährdet«

Was Geldmangel ist, erfährt jedes fünfte Kind in der Bundesrepublik sehr früh.
Was Geldmangel ist, erfährt jedes fünfte Kind in der Bundesrepublik sehr früh.

Der Paritätische Gesamtverband bezeichnet in seinem jährlichen Armutsbericht »jede Person als einkommensarm, die mit ihrem Einkommen unter 60 Prozent des mittleren Einkommens liegt«. Nach Einschätzung des Wohlfahrtsverbandes liegt Armut nämlich nicht erst vor, wenn ein Mensch in tiefem Elend lebt, sondern auch bei »gesellschaftlichem Ausschluss« und mangelnder Teilhabe am kulturellen Leben und an Bildung. Den Terminus »armutsgefährdet«, den das Statistische Bundesamt für Menschen mit eben jenen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verwendet, hält der Verband für einen Euphemismus.

Gleichwohl wird der Begriff von der Behörde weiter verwendet. Am Mittwoch legte sie aktuelle Daten zur »Armutsgefährdungsquote« bei Kindern und Jugendlichen vor. Sie geht davon aus, dass eine solche Gefährdung unter den oben benannten Einkommensverhältnissen vorliegt. Die entsprechende Quote lag demnach bei Menschen unter 18 Jahren bei 14,8 Prozent. Das wären 2,2 Millionen Minderjährige in Deutschland. Das Statistikamt ergänzt aber, Armut sei ein »mehrdimensionales Phänomen«. Insgesamt sei 2022 »knapp jede oder jeder vierte« unter 18-Jährige in Deutschland »von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht« gewesen.

Die Angaben zu Armut oder Armutsgefährdung von Kindern gehen trotz Nutzung derselben Datenquellen bei verschiedenen Akteuren weit auseinander. So ging der Paritätische Gesamtverband in seinem Armutsbericht von 21,3 Prozent bzw. mehr als 3 Millionen armen Kindern und Jugendlichen im Jahr 2021 aus. Mit Blick auf die Daten des Statistischen Bundesamtes für 2022 müsste die Zahl der Betroffenen also deutlich zurückgegangen sein. Doch die Bertelsmann-Stiftung nannte zuletzt auch für 2022 Angaben von 20 Prozent bzw. 2,88 Millionen armutsgefährdeten Mädchen und Jungen.

Unabhängig von Berechnungsmethoden: In jedem Fall sind es zu viele Kinder, die in einem reichen Land wie Deutschland stark benachteiligt sind, was ihren Zugang zu Mobilität, zu Bildungs- und Freizeitangeboten und nicht zuletzt ihre Wohnsituation betrifft. Die aktuellen Informationen des Statistikamtes belegen zudem einmal mehr, dass Armut quasi erblich ist. Denn von jenen Minderjährigen, deren Eltern etwa einen Haupt- oder Realschulabschluss ohne beruflichen Abschluss verfügten, gelten demnach 37,6 Prozent als armutsgefährdet. Dagegen sind nur 6,7 Prozent der Kinder in Akademiker- und sonstigen Haushalten, in denen Eltern einen höheren Bildungs- oder Berufsabschluss haben, arm oder von Armut bedroht.

Hinter der Statistik sehen Wissenschaftler das Risiko regelrechter Armutskreisläufe: Kinder wachsen in Armut auf, sind später folglich an höheren Schulen unterrepräsentiert und erreichen häufiger keinen höheren Bildungsabschluss als ihre Eltern. »Die Bildung der Eltern ist der wichtigste sozioökonomische Faktor für das Umfeld, in dem ihre Kinder aufwachsen«, betonte Mathias Huebener, Leiter der Forschungsgruppe Bildung und Humanvermögen beim Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, am Mittwoch gegenüber der Deutschen Presse-Agentur. Zum »Kreislauf« trägt aus seiner Sicht bei, dass jene Kinder, die am meisten von einem Kita-Besuch profitieren könnten, »häufig« nicht in Kindergärten gehen, weil die Hürden für eine Anmeldung für die Eltern zu hoch seien. Hinzu kämen Mehrfachnachteile, wenn die Eltern nicht über ausreichende Deutschkenntnisse verfügen oder alleinerziehend und deshalb nicht berufstätig sind.

Heidi Reichinnek, kinder- und jugendpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag konstatierte mit Blick auf die Daten: »Chancengerechtigkeit gibt es nicht. Kinder werden faktisch für den Bildungsabschluss ihrer Eltern bestraft.« Dabei gebe es zahlreiche Möglichkeiten, das zu ändern: »besserer Zugang zu Bildung, längeres gemeinsames Lernen, kostenfreie Nachhilfeangebote« sowie eine »vernünftige Kindergrundsicherung«. All das werde jedoch »verschleppt oder verhindert«, sagte Reichinnek am Mittwoch.

Familienministerin Lisa Paus (Grüne) hatte gefordert, der Bund müsse für die von der Ampel-Koalition geplante Kindergrundsicherung jährlich 12 Milliarden Euro bereitstellen. In der Leistung sollen unter anderem das bisherige Kindergeld, der Kinderzuschlag für Haushalte mit geringem Einkommen und Leistungen aus dem sogenannten Bildungs- und Teilhabepaket für Familien im Sozialleistungsbezug zusammengefasst werden. Finanzminister Christian Lindner (FDP) hat allerdings für die Kindergrundsicherung lediglich einen »Merkposten« von 2 Milliarden Euro für 2024 berücksichtigt.

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