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Neu im Kino »L'immensita«: Lidstrich als Schutzschild

Emanuele Crialese inszeniert Penélope Cruz als fabelhafte, aber überforderte Mutter

Andrea (Luana Giuliani, links), Gino (Patrizio Francioni, rechts) und Diana (Maria Chiara Goretti) können froh sein, dass ihre Mutter (Penélope Cruz) leicht einen an der Waffel hat.
Andrea (Luana Giuliani, links), Gino (Patrizio Francioni, rechts) und Diana (Maria Chiara Goretti) können froh sein, dass ihre Mutter (Penélope Cruz) leicht einen an der Waffel hat.

In einem Film mit Penélope Cruz in der Hauptrolle steht von vornherein fest, dass ihre Figur keine durchschnittliche sein kann. Wenn diese Frau auch noch Mutter ist, dann wird sie auf keinen Fall graumäusig ihre Pflichten erfüllen, hektisch zusammengeknotete Haare und labberige Baumwollhosen tragen. Sie wird keine Pausenbrote schmieren und keine Kuchen backen. Man wird sie nicht beim Hausaufgaben-Kontrollieren sehen oder beim Abwaschen. Mal abgesehen davon, dass diese Mütter für das Kino völlig uninteressant sind (außer, man will sich in schlechten Komödien über sie lustig machen), ist solch eine Rolle nichts für eine vom Format einer Penélope Cruz. Und so ist die von ihr gespielte Clara Borghetti in Emanuele Crialeses autobiografischem Spielfilm »L’immensità« keine gewöhnliche Mutter.

Gefangen in den strengen Konventionen im Italien der 70er Jahre, versucht sie durch regelmäßige Realitätsverweigerung, ihren Kindern die beste Mutter zu sein, die sie sein kann. Crialese, der selbst in dieser Zeit in Rom aufwuchs, bringt alle Frauenrollen aus seiner Kindheit zusammen. Die superkonservative katholische Gesellschaft lässt nicht viel Platz für Sonderbares, aber Clara Borghetti schert das wenig.

Als Antithese stehen ihr Mütter gegenüber, denen Claras unkonventionelle Art natürlich Unbehagen beschert. Wenn die Kinder in den Ferien normalen Unsinn machen und Clara vor der versammelten Mutter-Meute gesteht: »Ich habe meine Kinder noch nie geschlagen«, dann ist das schlechte Gewissen der anderen quasi greifbar. Und klar, wer hier offenbar die durchgeknallte Irre ist, die ihr Leben und erst recht ihre Kinder nicht im Griff hat. Die Figur der Clara Borghetti ist wirklich präzise ausgearbeitet, aber die Probleme des Films offenbaren sich noch, je länger er läuft.

Gerade ist Familie Borghetti in eine schicke Neubauwohnung am Rande der Stadt gezogen. Aber ein Blick in den Alltag reicht, um die ganze Fassade aus schick arrangierten Designermöbeln schnell wieder einzureißen. Während die Mutter das ermüdende Tischdecken als Musical inszeniert, schlägt die Stimmung – und damit auch Licht und Kamera (Gergely Pohárnok) – schlagartig ins Finstere um, als der Vater die Szenerie betritt.

Die Rollen sind klassisch verteilt: Da ist der paternalistische, autoritäre Felice (Vincenzo Amato) und da ist die Mutter Clara, die aufzukehren versucht, was der Mann durch Befehle, Bestrafung und Erniedrigung so an Seelenheil zerdeppert. Und schließlich die Kinder, die ihre eigenen Nischen in dem patriarchalen Universum gefunden haben (dank der Mutter): Andrea (Luana Giuliani), der von seinen Eltern den Mädchennamen Adriana bekam und sich den neuen Nachbarn als Junge vorstellt. Andrea ist Claras Partner in Crime.

Was die Mutter an Übergriffigkeit, nicht nur vom eigenen Mann, sondern auch von Wildfremden auf der Straße ertragen muss (Gewalt, Sexismus) wehrt Andrea als ihr Schutzschild ab. Gino (Patrizio Francioni) und Diana (Maria Chiara Goretti), die beiden jüngeren Geschwister, kompensieren ihre Angst vor dem Vater, die sich immer beim Abendrot zeigt, weil das der einzige gemeinsame Moment mit ihm ist, mit Essen. Was Diana verweigert, futtert Gino in sich hinein. Eine feine Beobachtung im Film, der leider nicht besonders viel Raum gegeben wird.

An der Figur des Andrea wird deutlich, woran der Film im Allgemeinen leidet. Viele wirklich spannende Lebenskonflikte brechen auf, aber nichts davon schenkt Crialese wirklich Aufmerksamkeit. Das Trans-Thema ist im Gegensatz zum erst kürzlich gestarteten Film »20 000 Arten von Bienen« nur bruchstückhaft eingefangen. Zwar spielen Körperscham (Baden geht nur in Vollbekleidung), Fremdheitsgefühle, der Konflikt mit der binären Welt und sogar das erste Verliebtsein eine Rolle, aber all diese Szenen wirken wie mit Gewalt in die Handlung hineingehämmert.

Einen derart sensiblen Zugang zu einem Kind auf der Suche nach sich selbst, wie es der Film »20 000 Arten von Bienen« schafft, bekommt »L’immensità« nicht hin, weshalb unklar bleibt, warum das Thema Transidentität überhaupt eine Rolle spielen muss. Die aus Überforderung gewachsene Weltflucht der Mutter im Kontrast zum Regelfaschismus des Vaters lässt den Familienkonflikt auch ganz ohne diesen verhuscht inszenierten Nebenschauplatz gewaltig eskalieren.

Auch dass sich Andrea, dessen Familie zur oberen Mittelschicht aufgestiegen ist, ausgerechnet in ein Mädchen aus einer benachbarten Arbeitersiedlung verliebt, deren Bretterbuden-Behausung schließlich von einem Tag auf den anderen abgerissen wird, ist so nebenbei wegerzählt. Schade, dass hier so fahrlässig mit spannenden Erzählsträngen umgegangen wird. Die immanente Sozialkritik verpufft einfach, weil sie aufgesetzt wirkt.

Crialese macht es einem wirklich schwer, Zugang zu den vielen Figuren zu finden. Auch das Verhältnis zwischen Clara und ihren Kindern ist vielschichtig erzählt, aber dabei ohne Fokus, sodass keiner der Konflikte wirklich auserzählt wird. Die Charaktere, die Crialese aus seiner Kindheit zusammenmontiert hat, bleiben blass. Einzig Cruz schafft sich den Raum, den die wunderschöne, exaltierte und so verletzliche Mutter Clara braucht. Immer perfekt geschminkt, immer im supermodischen 70er-Jahre-quietschbunt-Frottee-Look, ist das Äußere für sie zu einem Panzer geworden, weshalb der schlaue Andrea dann auch zu ihr sagt: »Du schminkst dich nur, wenn du ausgehst oder geweint hast.«

Da Clara als Mutter nicht in der Position ist, noch irgendwo ungezwungen sie selbst sein zu können, ist klar, was die Schminke also verdecken soll: ihre Kapitulation. Und so verschwindet Clara dann auch vor lauter Überforderung irgendwann in einem Sanatorium. Die Leere, die die abwesende Mutter in der Familie hinterlässt, bringt nun endlich die ersehnte Dichte in die Handlung, aber da sind es nur noch 30 Minuten bis zum Ende.

Crialese streut – es sind ja nicht schon genug Baustellen im Film offen – auch immer wieder Weltfluchtszenen in die Handlung mit ein, in denen Clara und ihre Kinder als Musical inszenierte Tanz- und Bühnenperfomances der italienischen Schlagerstars der 70er Jahre nachspielen. Eine irgendwie auch nicht besonders verblüffende Idee, zumal Clara, als nur angeheiratete Italienerin, mit ihrer neuen Heimat eigentlich eher hadert.

Die Beziehung zwischen Müttern und ihren Kindern ist im Kino schon oft verhandelt worden. Ob in Lynne Ramsays extrem verstörendem Drama »We need to talk about Kevin« oder Xavier Dolans intensiver Mutter-Sohn-Geschichte »Mommy« – immer blieb der Fokus klar auf der Frage: Welche Kräfte setzt die Verbindung zwischen Mutter und Kind frei? Crialeses Film fehlt dieser innere Kompass, er will Gesellschaftskritik, Familienporträt und Italien-Hommage gleichzeitig sein. Zum Glück hat Crialese eine (auch noch Italienisch sprechende) Penélope Cruz gewinnen können; ohne ihr Charisma würde man den Film nach ein paar Minuten schon wieder vergessen haben.

»L’immensità«, Italien, Frankreich 2023. Regie und Drehbuch: Emanuele Crialese. Mit: Penélope Cruz, Vincenzo Amato, Luana Giuliani. 97 Min. Start: 27.7.

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