Ursprung außer Reichweite

Die Gegenwartskunst zelebriert das Autochthone und läuft dabei Gefahr, rassistische Denkmuster zu festigen

Folklore der Gegenwart: Jennifer Tee, »Tampan Sessile Beings, Sacred Shrine«, Pigmentdruck, 2022
Folklore der Gegenwart: Jennifer Tee, »Tampan Sessile Beings, Sacred Shrine«, Pigmentdruck, 2022

Wer sich derzeit in Institutionen hineinwagt, die sich der Präsentation von Gegenwartskunst verschrieben haben, den beschleicht möglicherweise schon bald das Gefühl, im falschen Gebäude gelandet zu sein. So sehr erinnern die Exponate an manch solchem Ort an volkstümliche Ritualobjekte beziehungsweise Dokumente (nicht nur räumlich) ferner Kulturen, die man eher im Ethnologischen Museum vermuten würde. Tribalistische Muster, geknüpfte Teppiche, Holzschnitzereien, Skulpturen aus Muscheln und anderem Strandgut – alles kommt von weit her oder soll zumindest so aussehen.

Ein Museum, das auf diese Ästhetik derzeit besonders setzt, ist der Berliner Gropius Bau. Vor Kurzem wurde dort noch das Werk des australisch-indigenen Künstlers Daniel Boyd gezeigt, der laut Begleittext »indigene Wissensproduktion, transnationale Netzwerke des Widerstands sowie persönliche Familiengeschichten miteinander verwebt«. Derzeit läuft die Schau »Indigo Waves and Other Stories«. Sie versammelt Kunst aus dem Kulturraum des Indischen Ozeans. In diesem Rahmen sind dann zum Beispiel folkloristische Pigmentdrucke der niederländischen Künstlerin Jennifer Tee zu sehen, die in ihren symmetrischen Mustern Menschen-, Schildkröten- und Vogelfiguren enthalten. Oder Teppiche aus Kautschuk der italienischen Künstlerin Rosella Biscotti, die damit einen über zwei Jahrtausende alten Einrichtungsgegenstand mithilfe eines ebenfalls jahrtausendealten Rohstoffs neu interpretiert.

In der Kunsthalle Mannheim indes kann man gerade die Ausstellung »1,5 Grad« besuchen. Hier werden Werke verschiedener Künstler rund um die Themen Klimawandel und Naturzerstörung gezeigt. So zum Beispiel ein Raum, der von dem Brasilianer Ernesto Neto gestaltet wurde. Neto hat ihn mit einem Teppich und verschiedenen Kissen ausgelegt, von der Decke hängen mit aromatischen Teeblättern gefüllte kleine Stoffsäcke, am Boden sind Lautsprecher deponiert, aus denen leise indigene Musik aus Südamerika dringt. Im Raum daneben erinnert die niederländische Künstlerin Melanie Bonajo in einer Videoarbeit an die Ahnen der matriarchal organisierten Navajo-Stämme in New Mexico (USA), von denen man sich offenbar ihr ungebrochenes Verhältnis zur Natur abschauen soll.

So angenehm man sich in beiden Räumen ein wenig entspannen kann – mit Werken, die ästhetisch herausfordern, überwältigen, irritieren oder zum Nachdenken anregen, haben die beschriebenen Ausstellungsstücke, zumindest in ihrer aktuellen Präsentation, wenig zu tun. Alles, was sie der hier schreibenden Betrachterin vermitteln, ist ein etwas plattes Bedürfnis nach dem Leben in Einklang mit der Natur, nach Ursprünglichkeit und Folklore.   

Sie sind lediglich Beispiele für einen Trend, der westliche Kunstinstitutionen seit einigen Jahren fest im Griff hat. Noch vor zwei Jahrzehnten hätte man wohl über das aktuelle Ausmaß dieser »Ursprungskunst« verwundert den Kopf geschüttelt – auch wenn es in der modernen Kunst schon immer eine gewisse Strömung gab, die sich der vermeintlichen Natürlichkeit verschrieben hatte. Dazu zählten etwa die kubanisch-US-amerikanische Künstlerin Ana Mendieta, die durch ihre Nacktperformances in der Natur bekannt wurde, oder der Krefelder Kaufmannssohn Joseph Beuys, der sich gerne als eine Art Schamane inszenierte (und übrigens auch gerade in der Mannheimer Ausstellung vertreten ist). Doch nun floriert die Ethno-Ästhetik überall – nicht zuletzt auf der Documenta, die im letzten Jahr das traditionelle bäuerliche Leben in Indonesien zu ihrem Leitmotiv erhob.

Woher kommt diese neue Liebe zum Autochthonen? Auf der Hand liegt, dass sie zu den sozialen Kämpfen passt, die gerade in den westlichen Gesellschaften ausgefochten werden. So geht es im Klima-Aktivismus darum, die Ressourcen der Natur zu bewahren – da liegt es nicht fern, vergangene indigene Gesellschaften zu zelebrieren, in denen man sich um diese Ressourcen noch keine Sorgen machen musste. Nicht erst seit der »Black Lives Matter«-Bewegung ist es großen Teilen der Linken außerdem ein Anliegen, im Kampf gegen Rassismus auch das Erbe des Kolonialismus zu reflektieren sowie das Leid, das die Kolonialherrschaft der Europäer bei den einheimischen Bevölkerungen verursacht hat, zu entschädigen. Also werden diese einheimischen Gesellschaften in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt.

Hinter dem in diesem Zusammenhang oft angeführten Stichwort der »Dekolonisierung« scheint sich allerdings – zumindest im hier thematisierten Kunstkontext, so meine These – noch eine grundlegendere Agenda zu verbergen. In der Sehnsucht nach einer vorkolonialen (und damit auch vorkapitalistischen) Vergangenheit drückt sich auch die Ablehnung von Aufklärung per se aus. Statt eine sozialistische Gesellschaft anzustreben, die das bürgerliche Gleichheitsversprechen einlöst, indem sie die Ausbeutung der unteren Klassen beendet, sehnt man sich nach einem Matriarchat, das die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus ebenso wenig wie die zeitgenössischen Produktionsmittel kannte. Wo man mit seinen Händen Ernte einträgt, statt tagein, tagaus stupide E-Mails zu verfassen.

Und gewissermaßen ist diese Ablehnung der Aufklärung besonders in »postkolonialen« Kreisen ja auch verständlich, ging ihr historisches Fortschreiten doch Hand in Hand mit dem Ausbau kolonialer Herrschaft. So zwangen die europäischen Kolonialherren die einheimischen Völker in Amerika und Asien zur landwirtschaftlichen Arbeit mit für sie neuartigen Geräten, sie maßen ihre Arbeitszeit mit ihnen bis dahin nicht bekannten Uhren, sie nahmen ihnen das Land weg und teilten es nach den Maßstäben der modernen Geografie unter sich auf.

Doch Aufklärung – und das ist in diesem Kontext ebenfalls entscheidend – bedeutet nicht nur die Herrschaft der einen über die anderen, sondern auch die des modernen, aufgeklärten Menschen über sich selbst. Triebe werden zurückgefahren, das Subjekt diszipliniert sich, wird zum Bürger mit Demokratieverständnis und Verantwortung – nur um dann von Sigmund Freud zu lernen, dass es gar nicht »Herr im eigenen Haus« ist. Ebenso wenig ist es Herr über das von ihm selbst geschaffene System der Marktwirtschaft, das ihm bald so unberechenbar wie eine zweite Natur erscheint.

Man kann also zusammenfassen: Wirklich mündige Menschen hat die Aufklärung (noch) nicht hervorgebracht. Sie ist, wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der »Dialektik der Aufklärung« dargelegt haben, keineswegs das Gegenteil des Mythos, sondern eng mit ihm verknüpft, schlägt gleichsam immer wieder in ihn um. Zwar sei die Magie, an die die autochthonen Völker glaubten, »blutige Unwahrheit«, doch werde in ihr »Herrschaft noch nicht dadurch verleugnet, dass sie sich, in die reine Wahrheit transformiert, der ihr verfallenen Welt zugrundelegt«, schreiben die beiden Philosophen. Eben dies passiere jedoch in der aufgeklärten Gesellschaft.

Ist das nun allerdings Grund genug, die Aufklärung in Bausch und Bogen zu verwerfen und wieder ins magische Denken zu verfallen? Sollen wir wieder in indigenen Gesellschaften leben, in denen noch niemand jemals davon gehört hat, dass die Erde keine Scheibe ist? In denen es die Menschen vermutlich gar nicht interessierte, welche Form die Erde überhaupt hat, weil sie die meiste Zeit des Tages damit beschäftigt waren, ihr Überleben zu sichern? Im Gegensatz zu Horkheimer und Adorno scheint die zeitgenössische autochthone Kunst dafür zu plädieren.

Doch die Idee muss scheitern. Abgesehen davon, dass man die meisten dieser vergangenen indigenen Gesellschaften keineswegs als besonders gerecht oder human organisiert bezeichnen kann (man denke etwa an das Ritual des Menschenopfers, das einstmals auf allen Kontinenten praktiziert wurde), lässt sich die Zeit bekanntlich nicht zurückdrehen. Die Aufklärung ist allumfassend. Sie ist – mit Ausnahme weniger isolierter Populationen – bis in den letzten hinteren Winkel der Erde und der menschlichen Verfassung vorgedrungen. Vernünftig wäre daher die Erkenntnis, dass wir sie nicht zu weit, sondern im Gegenteil noch nicht weit genug getrieben haben. Oder, mit dem Sozialphilosophen Siegfried Kracauer gesprochen: »[Der Kapitalismus] rationalisiert nicht zu viel, sondern zu wenig. Das von ihm getragene Denken widerstrebt der Vollendung der Vernunft, die aus dem Grunde des Menschen redet.« Nicht moderne Wissenschaft und Technik an sich sind das Problem, sondern das positivistische Denken, das mit ihnen verbunden ist, und wie sie in den derzeitigen Herrschaftsverhältnissen vielfach eingesetzt werden. Zudem hat eine Dekolonisierung im traditionellen Wortsinn längst stattgefunden, Kolonialstaaten gibt es nicht mehr. Wir müssen uns nun mit den durch die freie Marktwirtschaft legitimierten globalen Machtasymmetrien auseinandersetzen, für die Kolonialismus und Sklaverei freilich die Basis schufen.

Was heißt das nun für die Gegenwartskunst? Ihre Aufgabe ist es, durch das Verfremden unserer Realität Zusammenhänge zu erhellen. Sie tut jedoch das Gegenteil, wenn sie unhinterfragt folkloristischen Sehnsüchten frönt. Was dabei herauskommt und gegenwärtig die Museen hierzulande füllt, ist in vielen Fällen bloß leicht konsumierbarer Ethno-Kitsch, der noch dazu Gefahr läuft, rassistische Denkmuster zu festigen. Denn die Ausstellungsstücke zeichnen in ihrer Gesamtheit ein doch recht homogenes Bild von Künstlerinnen und Künstlern aus dem Globalen Süden: erdverbunden, traditionell, primitiv. Zeitgenössische Medienkunst aus Mumbai oder Jakarta, die nicht ganz offensichtlich an die Motive von Dekolonisation und Ursprünglichkeit gekoppelt ist, hat es hingegen offenbar gerade schwer in westlichen Kulturinstitutionen. Das sagt mehr über unsere Gesellschaft aus als über irgendeine andere.

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