In Gedankenlandschaften fallen

Olga Mezenceva lässt in ihren Gemälden die unendlichen Beziehungen zwischen Objekten aufscheinen. Gerade ist ihr Werk in der Berliner Galerie ART CRU zu sehen

  • Klaus Hammer
  • Lesedauer: 4 Min.
Stadt, Landschaft oder Stillleben? Olga Mezencevas Form- und Farbgebilde lassen sich sehr unterschiedlich ausdeuten.
Stadt, Landschaft oder Stillleben? Olga Mezencevas Form- und Farbgebilde lassen sich sehr unterschiedlich ausdeuten.

1984 in Moskau geboren, seit 1997 in Berlin lebend, hat Olga Mezenceva in der heilpädagogischen und sozialtherapeutischen Kaspar-Hauser-Stiftung ihre Werkstatt – die Künstlerin kann sich nur sehr eingeschränkt sprachlich artikulieren. In ihren durchweg titellosen Bildern aus den letzten Jahren, die sie jetzt in der Berliner Galerie ART CRU vorstellt – der einzigen Galerie für Outsider Art in der Hauptstadt –, setzt sie die Wahrnehmungen aus der realen Welt in lineare Strukturen um, die sie zu farbigen Flächen ausgestaltet hat. Die Farbwahrnehmung wird hier zu einer Sache der Interaktion, es erscheint ein Gewebe von sich verknüpfenden Ereignissen. Jede Farbe verändert ihren Nachbarn, Orange wird zu Blau, Rot zu Grün, Violett zu Gelb. Eine subtile Gedankenlandschaft entsteht, wie man sie so kaum in der Malerei findet.

Es ist allein das Farbbild, das den flächig-geometrischen Objekten ein tiefenräumliches Geschehen verleiht. Grenzenlos strahlt das Gelb nach außen, während Rot die Farbe der lebenskräftigen Bewegung an sich ist. Dem sich verströmenden Blau ist das ruhige, sich beschränkende Grün gegenübergesetzt. Farbe ist im Werk Olga Mezencevas Sinnbild der Lebensfreude und bedarf keiner tiefen symbolischen Untertöne.

Eckige, winklige, trapez- und parallelogrammartige Formen werden in den Gemälden mit Kreisen und anderen Rundungen in Beziehung gesetzt. Alles, was den Grundriss einer Stadt ausmachen könnte – eine dichte und dann wieder lockere Bebauung, unterschiedliche Höhen des Gebauten, die Intervalle zwischen den Häusern, die funktionelle Anonymität, mechanische Verbindungswege, Statik und Proportion – ist hier vorhanden. Aber die Vielfalt der Wege und Irrwege, Ausdehnungen und Zusammenziehungen, Geradlinigkeiten und Brechungen unterschiedlicher Formationen und nicht zuletzt die sonnige blühende Farbe könnten die Fantasie des Betrachters auch zu einem landschaftlichen Erlebnis verführen. Vielleicht könnte man von einer Draufsicht sprechen, von einer Textur der Landschaft, wie man sie etwa vom Flugzeug aus erblickt.

Aber wäre es denn nicht auch denkbar, von Strukturen zu sprechen, wie sie im Stillleben üblich sind? Es wäre eine neue Sichtweise auf gewöhnliche Gegenstände um uns herum, durch sich in ihrem Aufbau ergebende Spannungen der linearen Formen. Die geometrischen Formzeichen stehen – mitunter scheinen sie sogar zu schweben – in dichter Verklammerung vor einem nicht abgegrenzten Raumgrund.

Stellt man nun diese geometrischen, aber eben doch mannigfaltige Assoziationen weckenden Zeichenkombinationen »auf den Kopf« – die Galerie ART CRU hat dazu an einigen Bildern Spiegel angebracht –, so können durchaus gegenständliche Wahrnehmungen gemacht werden. Der spiegelbildliche Ablauf fördert fast halluzinatorisch wirkende Figuren und Gesichter zutage, aber auch realer aussehende Dinge. Die Gemälde sind in dieser Hinsicht Vexierbilder, lassen bewegende menschliche Figuren noch schattenhaft erkennen, mitunter reduziert auf kürzelhafte Gestaltzeichen.

Man kann bei Olga Mezenceva von einem addierenden Stil sprechen: Je nachdem, wo sie ihre Arbeiten signiert, ob unten oder oben, an der Seite oder auf dem Kopf stehend, erscheinen die bizarren Formationen aus ungewöhnlichen Winkeln aufgenommen, verändert sich die Perspektive, die eine jeweils neue Wahrnehmung erst möglich macht. Und gerade darum geht es der Malerin: um den Versuch, diese unendliche Aufsplitterung, diese unendlichen Beziehungen untereinander sichtbar zu machen – und wenn es eben auf Kosten der »lebendigen Wirklichkeit« gehen sollte. Der Akt des Sehens – ein verstandesmäßiger wie emotionaler Vorgang, der subjektiv abläuft, der niemals festgelegt, immer im Werden begriffen ist. Die Malerin will den Betrachter förmlich in das Bild hineinziehen: Man soll hineinfallen, wie man in einen Spiegel fällt. Das Bild ist der Filter zwischen Drinnen und Draußen – und die Malerin nimmt sich selbst in ihre Bilder mit hinein und lässt auch noch spüren, was hinter ihr ist. Das Atelier als Ort für Transmutation, Erinnerung und Meditation, ihrem unbedingten Wunsch nach Kommunikation mit anderen Ausdruck gebend, ist der Schlüssel zu ihren Gemälden mit ihrer klaren Transparenz und dem doch so komplizierten Aufbau neben- und übereinander geschichteter, vor- und rückwärts gewendeter, gerader und auf den Kopf gestellter Bildebenen, mit den ständig sich öffnenden und wieder schließenden Räumen.

Der Weg Olga Mezencevas aus der gegenständlichen Welt in die Abstraktion führt also wieder zurück zu einer Sichtweise, der es um die Vermenschlichung der Prozesse geht. Eine Bildwelt, die alle Skalen der Empfindung und Stimmung beherrscht, von melancholischer Traurigkeit bis zu unbeschwerter Heiterkeit. Ihre Arbeiten zu betrachten, ist ein aufregendes Erlebnis.

»Olga Mezenceva – Andere im Spiegel«, bis zum 19. Oktober, Galerie ART CRU, Berlin

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