Roman »Wie die Fliegen«: Sehnsucht nach kollektivem Aufbegehren

Samuel Hamen erzählt in seinem Debütroman »Wie die Fliegen« von jugendlichen Aufständen

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 3 Min.
Natur und Klima scheinen im Roman »Wie die Fliegen« außer Kontrolle zu sein.
Natur und Klima scheinen im Roman »Wie die Fliegen« außer Kontrolle zu sein.

Eine Detektivfigur namens Farr reist in Samuel Hamens Debütroman »Wie die Fliegen« in eine abgelegene namenlose Provinzstadt und soll dort einen vermissten Jugendlichen finden. Losgeschickt wurde Farr von einer geheimnisvollen Institution in der sogenannten Zweiten Hauptstadt, die sich die Akademie nennt und unter anderem für die Niederschlagung von jugendlichen Aufständen zuständig ist. Vor Ort beginnt Ermittler*in Farr mit Recherchen, kontaktiert unter anderem den Bürgermeister und die Brigadiers, wie die Sicherheitsbehörden dort heißen, und richtet sich in einem Apartment ein.

Farr vernimmt zahlreiche mögliche Zeugen, unter anderem die Eltern, aber auch Freunde und Mitschüler des vermissten Saul; schließlich wird das Verschwinden des Jugendlichen, wie bei derartigen Ermittlungen üblich, als groß angelegte Spielszene mit vielen Akteuren nachgestellt. Je mehr die Detektivfigur ermittelt, desto komplexer scheint der Fall zu werden. Schon vor Jahren verschwand die Tochter eines Politikers in dieser verschlafenen Provinzstadt, in der die Jugendlichen in einem fort eine Droge namens Cheevl konsumieren, subversive Musikkompositionen hören und verbotene Graffitis an Wände malen.

»Wie die Fliegen« ist in einer eigenwilligen, fantastischen Welt angesiedelt. Gerade das komplexe und in sich stimmige World-Building ist das Beeindruckende in Samuel Hamens Roman. Immer wieder ist die Rede von einer Dezimierung, die Jahre zurückliegt und der ein Großteil der Tierwelt zum Opfer gefallen ist. Man hört von Dürreperioden und Überschwemmungen in anderen Landesteilen. Natur und Klima scheinen außer Kontrolle zu sein. Die namenlose Stadt verfügt außerdem über eine außergewöhnliche Energiequelle, die nur als »Materie« bezeichnet und von einem Institut namens I. L. E. verwaltet wird.

Samuel Hamen deutet oft nur an, was sich hinter den fantastisch anmutenden Versatzstücken dieser Welt verbirgt, was den Lesern Raum lässt für eigene Assoziationen. Dabei zieht der 1988 geborene Samuel Hamen ganz unterschiedliche Textregister, die ineinandergeschoben werden. Das ist mal dialogreich, dann sind es E-Mails oder Textnachrichten, innere Monologe oder ein Forschungsbericht aus dem 19. Jahrhundert, der als lokaler Bestseller herumgereicht wird und von der Entdeckung der Materie erzählt. Das verleiht dieser eher langsam erzählten Geschichte immer wieder Tempo, das gegen Ende richtig anzieht.

Im Verlauf des Romans kommt es zu einem regelrechten Aufstand gegen die autoritäre Ordnung. Vor dem Rathaus wird eine gigantische Mehlbombe gezündet, und die jugendlichen Aufständischen bemächtigen sich der Materie im geheimnisvollen Forschungsinstitut, nachdem die Brigadiers im Zoo eingesperrt wurden. Diese manchmal surreal anmutende Erzählung liest sich wie eine eigenwillige, aber sehr packende Mischung aus Kafkas »Prozess« und der Netflix-Serie »Dark«.

Neben den Ermittlungen geht es in zahlreichen Rückblenden auch in die Vergangenheit von Farr, um Kindheitserinnerungen, die Ausbildung zum Agenten und den Tod eines engen Freundes in der Jugend. Farr beginnt während der Ermittlungen außerdem bald eine Beziehung zu einer anderen Person zu führen, die ebenfalls ohne geschlechtliche Zuordnung auskommt.

Zwischen Kaffeehaus- und Barbesuchen, leidenschaftlichen Nächten, immer heftiger werdenden Auseinandersetzungen mit den örtlichen Behörden und der zunehmend schwierigeren Kommunikation mit dem Vorgesetzten in der Zweiten Hauptstadt ermittelt Farr weiter und kommt dabei der rebellischen Jugend näher. Langsam erodiert Farrs Selbstverständnis als Vertreter*in der staatlichen Herrschaft. Oder ist das nur Teil einer Ermittlungstaktik?

Samuel Hamen schreibt in dieser fantastischen Noir-Geschichte auch hingebungsvoll über Musik und ihre subversiven Möglichkeiten, über Drogen und digitale Kultur, es geht um ökologische Bedrohungen durch klimatische Verschiebungen, um die Sehnsucht nach Freiheit und Selbstermächtigung, um den Kampf der jungen Menschen gegen die Selbstverständlichkeit autoritärer Zurichtung. Samuel Hamens Figuren lehnen sich auf und brechen aus ihren inneren Zwängen aus. Damit formuliert dieser Roman aus Luxemburg eine literarische Sehnsucht nach kollektivem Aufbegehren.

Samuel Hamen: Wie die Fliegen. Diaphanes, 200 S., br., 18 €.

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