Justiz in Nordrhein-Westfalen beklagt Überlastung

Staatsanwalt: »Wir sind kurz vor dem Kontrollverlust«

  • David Bieber
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Staatsanwaltschaften in Nordrhein-Westfalen kommen ihrer Arbeit immer weniger hinterher. Zum Stichtag Ende März seien 226 000 Ermittlungsverfahren unerledigt gewesen, teilte das Justizministerium des Landes auf nd-Anfrage mit. Das entspricht einem Zuwachs der offenen Ermittlungsverfahren binnen eines Jahres von zwölf Prozent und binnen zwei Jahren um 34 Prozent. Die Zahl der neuen Ermittlungsverfahren bei den Staatsanwaltschaften stieg 2022 gegenüber dem Vorjahr um 8,4 Prozent auf 1,2 Millionen. Dazu kommt, dass weiterhin Personal in der Justiz fehlt.

Zum 1. Juli gab es 1480 Planstellen für Staatsanwält*innen in dem Bundesland. An diesem Stichtag seien davon 121 Stellen, also acht Prozent, nicht besetzt gewesen, teilte das Ministerium mit. Im übrigen Bereich der Rechtspfleger und Amtsanwälte seien 372 Planstellen unbesetzt gewesen. Ertrinken die Justizmitarbeitenden also in einer Flut von Arbeit?

Zumindest schlagen der Bund der Richter und Staatsanwälte in NRW sowie ein Staatsanwalt aus dem bevölkerungsreichsten Bundesland Alarm. Dort fehlten 200 Staatsanwälte, kritisiert der Richterbund. Im Haushaltsplan 2024 seien aber lediglich 20 zusätzliche Stellen für Staatsanwälte vorgesehen. Der Personalmangel sei massiv und werde sich absehbar noch verschärfen. »Diese Besetzungslücke, nicht zuletzt aufgrund nicht mehr konkurrenzfähiger Besoldung, zwischen Bedarf und Haushaltsstellen in den einzelnen Staatsanwaltschaften fällt deutlich höher aus«, teilt der Juristenverband auf Nachfrage mit.

Ein Staatsanwalt aus NRW, der seinen Namen sowie seine Behörde nicht öffentlich machen will, sagt im Gespräch mit »nd«: »Staatsanwälte haben heutzutage sehr viel zu tun, was allein schon die durchschnittlichen Eingangszahlen zeigen. Der Statistik zu den offenen Verfahren darf man nicht trauen, denn es befinden sich zu viele unbearbeitete Rückstände darunter – wie es wirklich aussieht, weiß aber tatsächlich keiner.«

»Wir stehen also kurz vor dem Kontrollverlust, wenn er nicht schon da ist«, sagt der Jurist. Das liege aber nicht an den Mittel- und Oberbehörden. Diese stellten nach Kräften Mittel und Stellen bereit. »Das Problem liegt darin, dass man für das zur Verfügung stehende Geld und für die zur Verfügung stehenden Stellen nicht die quantitativ und qualitativ erforderlichen Arbeitskräfte bekommt, um den Laden aufzuräumen.«

Verantwortlich macht er dafür »die vollkommen falsche Personalpolitik für den mittleren Dienst aus den 90ern, den Nullerjahren und auch noch den Zehnerjahren«. Ein Umdenken habe viel zu spät eingesetzt.

Der Staatsanwalt mahnt aber zur Differenzierung bei den Belastungszahlen. Einerseits gibt es die jährlichen Eingänge an neuen Verfahren, die ein Staatsanwalt zu erwarten hat. Als statistische Richtschnur gelten etwa 800 bis 900 neue Verfahren pro Staatsanwalt pro Jahr. Pro Monat seien dies 65 bis 75 neue Verfahren im allgemeinen Dezernat, pro Tag also etwa drei. »Das kann klappen, aber das ist kein Selbstläufer«, meint der Fachmann.

Die Belastungsquote habe bei den Staatsanwälten im vergangenen Jahr bereits bei 113,5 Prozent gelegen, heißt es indes aus dem NRW-Justizministerium.

Doch selbst, wenn man es kontinuierlich schafft, die erforderliche »Erledigungsquote« zu erzielen, ist es so, dass die Statistik das nicht abbildet. Damit ein Verfahren als erledigt in die Statistik einfließt, muss es in der Geschäftsstelle als abgeschlossen ins System eingepflegt werden. »Und genau dort ist das Nadelöhr«, sagt der Staatsanwalt.

Die Geschäftsstellen seien »hoffnungslos überlastet«, und zwar bei nahezu allen Staatsanwaltschaften in NRW. Dass eine Geschäftsstelle unbearbeitete Verfahren im namhaften vierstelligen Bereich »auf Halde« liegen habe, sei mittlerweile nahezu normal. »Würden diese Rückstände auf einmal heruntergearbeitet, sänke auch die Zahl offener Verfahren drastisch. Das geht aber nicht, denn die Geschäftsstellen sind absolut unterbesetzt und es gibt dort keine Leitfiguren mehr, die den Laden zusammenhalten.« Früher sei eine Geschäftsstelle mit einigen erfahrenen Kräften, einigen »mittelalten« und einigen jungen Mitarbeitenden besetzt gewesen. »Irgendwann hat das Justizministerium NRW angefangen, die teuren Beamtenstellen im mittleren Dienst auszudünnen, was zur Folge hatte, dass über viele Jahre kaum Nachwuchs für die Geschäftsstelle ausgebildet wurde«, berichtet der Staatsanwalt.

Heute würden Nachwuchsjuristen auf dem freien Arbeitsmarkt kurz angelernt und landeten dann »auf einer abgesoffenen Geschäftsstelle, ohne zu wissen, wie man die Arbeit priorisieren muss und was man tun kann, um die Reste zu erledigen«. Das habe zur Folge, dass die frisch eingestellten Kräfte oft nach kurzer Zeit wieder kündigten.

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