Behandlungsfehler auf hohem Niveau

Medizinischer Dienst fordert umfassende Dokumentation für eine bessere Prävention

  • Rainer Balcerowiak
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Anzahl der vom Medizinischen Dienst (MD) erstellten fachärztlichen Gutachten zu vermuteten Behandlungsfehlern ist 2022 mit 13 059 Fällen im Vergleich zum Vorjahr ungefähr gleich geblieben. In jedem vierten begutachteten Fall wurden ein Fehler und ein Schaden festgestellt, in jedem fünften war der Fehler ursächlich für die erlittene gesundheitliche Beeinträchtigung. In 84 Fällen kamen die Gutachter zu dem Ergebnis, dass Behandlungsfehler für den Tod eines Patienten ursächlich waren oder maßgeblich dazu beigetragen haben.

Das geht aus der aktuellen Jahresstatistik des MD hervor, die am Donnerstag in Berlin vorgestellt wurde. Allerdings ist laut MD von einer sehr hohen Dunkelziffer auszugehen, denn laut Erhebungen werden nur drei Prozent aller möglichen Behandlungsfehler überhaupt bei den Krankenkassen gemeldet und dann untersucht.

Die aktuelle Statistik zeige, dass es in Deutschlands Kliniken und ambulanten Versorgungseinrichtungen nach wie vor erhebliche Defizite bei der Versorgungsqualität und der Patientensicherheit gebe, so Stefan Gronemeyer, Vorstandsvorsitzender des MD bei der Präsentation. Zumal sich an der Häufigkeit bestimmter Schadensereignisse in den vergangenen Jahren kaum etwas geändert habe. Das betrifft unter anderem Medikationsfehler und Verwechslungen von Patienten, etwa durch falsch zugeordnete Röntgenbilder.

Diese sogenannten »Never Events« sind zwar vergleichsweise selten, deuteten aber auf systemische Mängel beim Versorgungsprozess und bei den Sicherheitsvorkehrungen hin, so Gronemeyer. Mit dem der Luftfahrt entlehnten Begriff werden Fehler beschrieben, die bei Einhaltung aller Sicherheitsregeln nicht vorkommen würden. Zu den häufigten Schadensereignissen dieser Art gehören Dekubitus (Wundliegen) während eines stationären Aufenthalts, bei Operationen zurückgelassene Fremdkörper sowie Operationen am falschen Körperteil.

Bislang gibt es in Deutschland, anders als in vielen anderen Ländern, kein verbindliches Meldesystem für diese »Never Events«. Doch nur mit einem umfassenden, pseudonymisierten und sanktionsfreien Meldesystem könne ein tragfähiges Präventionssystem für diese Fehlerquellen entwickelt werden, mahnt der MD-Vorstand.

Die meisten Behandlungsfehler – etwa zwei Drittel – werden aus der stationären Behandlung gemeldet und gutachterlich bestätigt. 32 Prozent betreffen operative Therapien, 23 Prozent die Befunderhebung, gefolgt von Fehlern in der Pflege mit 14,1 Prozent. Zu den Spitzenreitern gehören regelmäßig Beschwerden über Hüft- und Kniegelenksoperationen sowie Therapiefehler bei Arm-, Bein- und Schulterbrüchen sowie Bandscheibenschäden.

Von der bevorstehenden Klinikreform und der angestrebten fachlichen Spezialisierung vieler Häuser erhofft sich Gronemeyer positive Effekte für die »Sicherheitskultur«. Auf die Frage, ob nicht auch der Fachkräftemangel und die teilweise extreme Überlastung des Personals ein wesentlicher Nährboden für Behandlungsfehler sei, reagierte der MD-Vorsitzende eher verhalten. Natürlich seien ausreichende Personalausstattung und gute Arbeitsbedingungen eine wichtige Voraussetzung für eine qualitativ hochwertige und vor allem sichere Versorgung der Patienten. Doch viele der häufigen Fehler ließen sich vor allem durch bessere Dokumentionen der Behandlungsverläufe, Diagnosen und »Prozessoptimierungen« vermeiden.

Zu einer angemessenen Fehlerkultur gehört für Gronemeyer auch der »enttabuisierte Umgang« mit Schadensereignissen innerhalb der Kliniken. Ein »ausgeprägtes Hierarchiedenken« verhindere oftmals, dass Fehler thematisiert werden. Es müsse aber selbstverständlich werden, dass auch ein junger Assistenzarzt ohne Angst kritische Fragen an einen erfahrenen Oberarzt in Bezug auf bestimmte Therapieverläufe stellen könne.

Zu Wort gemeldet hat sich am Donnerstag auch die Deutsche Stiftung Patientenschutz. Sie wirft der Bundesregierung vor, Opfer von Behandlungsfehlern im Stich zu lassen, und fordert einen Härtefallfonds. »Die Bundesregierung ist weit weg davon, die Stellung der Patienten im Gesundheitssystem zu stärken«, sagte Stiftungsvorstand Eugen Brysch der »Neuen Osnabrücker Zeitung« am Donnerstag. Bisher führten der Medizinische Dienst, Gerichte und Ärztekammer jeweils eigene Statistiken über Behandlungsfehler, aber »Missstände lassen sich nur erkennen, wenn eine lückenlose Dokumentation erfolgt«, sagte der Patientenschützer. Brysch forderte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) auf, die Patientenrechte jetzt gesetzlich zu stärken. Dazu gehöre »in jedem Fall auch eine Beweislastumkehr zugunsten der Geschädigten«. Eine Forderung, für die auch Gronemeyer »volles Verständnis« hat. Aber das werde schwer durchzusetzen sein, und deswegen solle man sich jetzt auf das unmittelbar Machbare beim Schutz von Patienten vor vermeidbaren Fehler konzentrieren.

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