Die Bahn fährt nicht mit Geld allein

Die Pünktlichkeit zu verbessern, sollte laut Forschern übergeordnetes Ziel auf der Schiene sein

Verspätungen und überfüllte Züge sind leider Alltag.
Verspätungen und überfüllte Züge sind leider Alltag.

»Das System ist chronisch instabil«, sagt Gernot Liedtke, Direktor des Instituts für Verkehrsforschung an der Technischen Universität Berlin, mit Blick auf die mangelnde Pünktlichkeit der Bahn in Deutschland. Das Problem hat nach seiner Ansicht viele Gründe: von einem teils überlasteten Netz durch gestiegene Fahrgastzahlen über langsame Güterzüge bis hin zu schlechter Wartung von Infrastruktur sowie nicht mehr zeitgemäßer Technik. Der Fahrplan stehe auf dem Papier, in der Realität gebe es »ein zufälliges Abfahren der Züge«.

Liedtke treiben vor allem die sogenannten Initialverspätungen um. Züge fahren bereits zu spät los, woraufhin sich die nachfolgenden Züge ebenfalls verspäten. Das ist übrigens nicht nur für Reisende lästig, sondern schadet auch der Attraktivität des Berufs, wenn geregelte Arbeitszeit zur Glückssache wird. Der Berliner Verkehrsforscher regt das Bereithalten von Fahrzeug- und Dienstplanreserven zum Abpuffern von kleineren Störungen an, damit sich diese nicht zu größeren auswachsen.

Ein geradezu peinlicher Grund für viele Abfahrtverspätungen: Die eingesetzten Züge passen nicht zu den Gleisen, was den Einstieg verzögere, erläutert Markus Hecht, Experte für Schienenfahrzeuge an der TU Berlin. Dazu gehöre auch die nach wie vor häufig fehlende Barrierefreiheit.

Das Kölner Science Media Center hatte am Mittwoch verschiedene Bahnexperten zu einem Presseworkshop geladen, um über Ursachen der Unpünktlichkeit und darüber zu sprechen, wie diese zu beheben seien. Dass die Züge im Nah- und Fernverkehr trotz jahrelanger Beteuerungen immer unpünktlicher fahren, ist der zentrale Grund, dass Richard Lutz als Chef der Deutschen Bahn (DB) vorzeitig den Hut nehmen muss. Wie es weitergehen soll, will Verkehrsminister Patrick Schnieder (CDU) im September mit einer neuen Strategie aufzeigen. Die Gewerkschaft EVG fordert, dass der Nachfolger nicht aus dem Konzern, aber aus dem Eisenbahnbereich kommen sollte, was Experten ähnlich sehen.

Die Entlassung des Bahnchefs hält Kay Mitusch, Inhaber des Lehrstuhls Netzwerkökonomie am Karlsruher Institut für Technologie, für den Ausdruck einer »falschen Sichtweise«. Statt personeller sieht er strukturelle Veränderungen als zentral an: Da seit der Bahnreform in den 90er Jahren die DB keine Behörde mehr, sondern ein eigenständiges Unternehmen sei, stelle die Politik zwar Geld bereit, halte sich aber ansonsten aus diesem Bereich heraus. Ein schwerer Fehler: Die Bahn werde sogar noch belohnt für schlechte Leistungen, meint Mitusch. Der Ökonom fordert daher, dass der Staat die Mittelvergabe besser kontrollieren lässt, etwa durch die Bundesnetzagentur. Bisher kontrolliere die Bahn sich selbst.

Dass mehr Geld allein die Probleme auf der Schiene nicht löst, sondern dass es um einen effizienten Einsatz der Mittel gehen müsse, meint auch Fahrzeugexperte Hecht. Er verweist dabei auf das Beispiel Italien, wo der Staat in Relation zu den gefahrenen Personenkilometern halb so viele Mittel bereitstelle wie hierzulande, sich in den vergangengen Jahren vieles aber »ganz gewaltig verbessert« habe, auch die Pünktlichkeit.

Hecht wünscht sich zudem Änderungen bei den Trassenpreisen. Das derzeitige System berücksichtige nicht, dass Gleise durch den Einsatz besimmter Fahrzeuge deutlich schneller verschlissen. So sei die auf 50 bis 60 Jahre ausgelegte Stadtbahn Berlin bereits nach 25 Jahren so geschädigt, dass sie saniert werden müsse, was zu einer sechsmonatigen Sperrung ab Mitte 2026 führen wird. Trassenpreise müssten einen Anreiz geben, dass gleisfreundliche Züge zum Einsatz kommen.

Auch die hohe Summen verschlingenden Generalsanierungen von Hauptstrecken stoßen bei den Experten nicht gerade auf Begeisterung. Was der DB-Infrastruktursparte zugute komme, sorge für massive Schäden bei den Eisenbahnunternehmen, auch den konzerninternen. TU-Forscher Liedkte verweist auf die derzeit laufende Sperrung der Strecke Hamburg-Berlin, die dazu führe, dass die Fahrgäste »nicht mehr in vernünftiger Zeit« in die Städte kämen. Nach seinen Angaben fallen die Schäden genauso hoch aus wie die Baukosten. Dies müsse bei der Planung berücksichtigt werden. Generell gibt es die Kritik, dass monatelange Streckensperrungen nicht zwangsläufig seien, sondern Sanierung auch bei rollendem Verkehr möglich sei.

Des Weiteren wird bemängelt, dass bei den laufenden Sanierungen wichtige Dinge außen vor bleiben. So könnten etwa Ausweichstrecken für Güterzüge geschaffen werden. Insbesondere sollten die Arbeiten genutzt werden, die immer wieder verschobene Einführung des neuen europaweiten Verkehrsleitsystems ETCS und den Aufbau elektronischer Stellwerke voranzutreiben. Indem durch ETCS Züge in kürzeren Abständen fahren können, lasse sich die Kapazität von Strecken laut Schätzungen um 20 Prozent erhöhen, erläutert Liedtke.

Er warnt indes davor, sich zu viel von der Politik zu versprechen. Diese habe äußerst widersprüchliche Ansprüche an die Bahn. Während sich die Länder einen Zehn-Minuten-Takt im Nahverkehr wünschten, seien die Eisenbahnknoten in den Ballungszentren dadurch oft verstopft, was den Fernverkehr belastet. Liedtke schlägt daher den Einatz von modernen Expressbussen ins Umland vor. Ein Problem sei auch der sprichwörtliche Flickenteppich, der am stärksten in Bayern ausgeprägt sei. Dort gebe es in einigen Gegenden einen Halbstundentakt bis ins kleinste Dorf, anderswo fahre gar nichts. Das Fazit des Forschers daher: »Im Grunde fehlt der Bahn eine Vision.«

Mitusch weiß, wie diese aussehen könnte: das Kerngeschäft zu stärken mit dem übergeordneten Ziel, die Pünktlichkeit zu verbessern. Das sei dann die Grundlage für alle weiteren Überlegungen und Ausbauziele im Bahnverkehr.

Wir stehen zum Verkauf. Aber nur an unsere Leser*innen.

Die »nd.Genossenschaft« gehört denen, die sie lesen und schreiben. Sie sichern mit ihrem Beitrag, dass unser Journalismus für alle zugänglich bleibt – ganz ohne Medienkonzern, Milliardär oder Paywall.

Dank Ihrer Unterstützung können wir:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen in den Fokus rücken
→ marginalisierten Stimmen eine Plattform geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und weiterentwickeln

Mit »Freiwillig zahlen« oder einem Genossenschaftsanteil machen Sie den Unterschied. Sie helfen, diese Zeitung am Leben zu halten. Damit nd.bleibt.