Ukraine: Anarchisten für Staat und Nation

Die ukrainischen Solidarity Collectives beteiligen sich am Widerstand gegen Russlands Invasion

  • Interview: Alieren Renkliöz
  • Lesedauer: 8 Min.
Sergey Movchan (r.) mit anderen Kollektiv-Mitgliedern im Lager. Der 36-Jährige ist Journalist und Teil der Solidarity Collectives. Er lebt in der ukrainischen Hauptstadt Kiew.
Sergey Movchan (r.) mit anderen Kollektiv-Mitgliedern im Lager. Der 36-Jährige ist Journalist und Teil der Solidarity Collectives. Er lebt in der ukrainischen Hauptstadt Kiew.

Sergey, Sie sind Teil der Solidarity Collectives, was hat es damit auf sich?

Wir sind eine antiautoritäre Freiwilligengruppe: Anarchist*innen, Antifa, Mitglieder von Anarchist Black Cross, Öko-Anarchist*innen, Feminist*innen und Syndikalist*innen. Alle kommen zusammen, um antiautoritäre Soldat*innen und den ukrainischen Widerstand zu unterstützen. Der militärische Teil unserer Arbeit fokussiert sich darauf, mit den Kämpfern zu sprechen, Anfragen zu erhalten und Sachen zu kaufen. Das Medienteam ist für Social Media, die Kommunikation mit der Presse und den westlichen Genoss*innen verantwortlich. Und dann gibt es noch den humanitären Teil.

Warum kämpfen Anarchist*innen in diesem Krieg?

Weil wir keine andere Möglichkeit haben. Das heißt nicht, jeder soll eine Waffe tragen, aber man muss gegen diese Invasion sein. Jeder sollte alles tun, um sie aufzuhalten. Unter russischer Besatzung werden alle Aktivist*innen unterdrückt. Man kann die Freiheit, die wir in der Ukraine genießen, nicht mit Russland vergleichen. Selbst jetzt sehe ich mich als Antimilitaristen. Ich bin nicht glücklich über die Militarisierungsprozesse in der Ukraine. Ich denke, in der Zukunft werden wir eine globale pazifistische Bewegung brauchen. Aber wenn ein Krieg herrscht, muss man das realisieren. Wenn du das Opfer und nicht der Aggressor bist, kann dir niemand sagen: Versuch nicht, zurückzuschlagen. Wir verteidigen uns selbst, mehr nicht. Keiner will russische Territorien erobern.

Wie sieht Ihr Alltag heute aus, welcher Arbeit gehen Sie nach?

Mein Alltag besteht aus Kommunikation mit Kamerad*innen in der Ukraine und Mitstreitern aus aller Welt. Jeden Tag sende und empfange ich Kisten mit taktischer Ausrüstung oder humanitärer Hilfe. Wir organisieren Reisen in die Vorfrontgebiete, zum Beispiel nach Nikopol, wo nach der Zerstörung des Kachowka-Dammes das Wasser verschwunden ist.

Sind die Solidarity Collectives eine zivile oder eine militärische Organisation?

Die Solidarity Collectives sind eine zivile Organisation. Wir selbst sind keine Soldat*innen. Vor der groß angelegten Invasion war es ein Treffpunkt von Anarchist*innen und Linken, die versuchten, sich vorzustellen, was wir im Falle einer Invasion tun sollten. Die Idee war, zwei Gruppen zu bilden, einen militärischen Teil und einen zivilen. Damals beschloss eine Gruppe Anarchist*innen, dass sie sich im Falle eines Angriffs Putins auf die Ukraine alle einer bestimmten Territorialverteidigung anschließen würden. So wurde die antiautoritäre Einheit geschaffen. Eine weitere Gruppe hatte die Aufgabe, ein Netzwerk von Freiwilligen zu schaffen, um die Kämpfer*innen zu unterstützen. So hat sich die Operation Solidarity gegründet und sich dann Solidarity Collectives entwickelt. Es sollte von Anfang an eine sehr enge Verbindung zwischen der militärischen und der politischen Arbeit geben.

Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms brachten die Solidarity Collectives Hilfe für die Menschen in die Regionen. Mit Spendengeldern wird aber auch Ausrüstung für Soldaten gekauft.
Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms brachten die Solidarity Collectives Hilfe für die Menschen in die Regionen. Mit Spendengeldern wird aber auch Ausrüstung für Soldaten gekauft.

Die ukrainische Armee hat einer solchen anarchistischen Einheit zugestimmt?

Eine große antiautoritäre Einheit fiel nach drei Monaten auseinander, weil das Kommando ihnen keine Möglichkeit gab, an den Kämpfen an der Front teilzunehmen. Also schlossen sich die Kämpfer*innen eigenständig regulären Einheiten an. Es gibt also keine homogene anarchistische Einheit. Was es gibt, sind Anarchist*innen und Linke in vielen verschiedenen Einheiten. Manchmal ist es eine kleinere Gruppe, nur eine Einzelperson, manchmal ist es eine größere, zum Beispiel die Antifa-Hooligans des Fußballvereins Arsenal Kiew. Der Staat interessiert sich nicht für die politische Ideologie der Kämpfer*innen. Die kämpfenden Kamerad*innen tragen anarchistische Symbole und Aufnäher. Sie verstecken ihre Weltanschauung nicht, sondern versuchen, Menschen mit den gleichen Ideen um sich zu scharen.

Ein anarchistischer Ansatz wäre, dass jeder in seinem Land gegen seinen Staat kämpft, statt sich mit der Bourgeoisie zu verbünden.

Vor der Invasion war das Hauptziel unserer Kritik der ukrainische Staat. Und nach dem Ende des Krieges wird es wieder so sein. Wir versuchen nicht, die Ukraine reinzuwaschen. In der ukrainischen Gesellschaft laufen viele Dinge falsch. Eine starke nationalistische Bewegung kontrolliert die Straßen. Viele nationalistische Symbole sind in der Ukraine zu gewöhnlichen Dingen geworden. Stepan Bandera wurde zum allgemeinen Symbol des ukrainischen Widerstands. Ich bin offen dafür, das zu kritisieren. Und ja, Russland ist ein bürgerliches Land, die Ukraine ist auch ein bürgerlicher Staat. Aber ich glaube nicht, dass der russische und der ukrainische Staat gleich sind. Es gibt einen Unterschied zwischen diesen beiden Regimen. Fast niemand hier will Putin als Führer der Ukraine. Nicht weil wir die Probleme in der Ukraine nicht sehen oder große Fans des ukrainischen Staates wären, sondern weil es besser ist, eine schlechte Demokratie zu unterstützen als eine gute Autokratie. Deutschland ist auch kein perfekter Staat, würdest du den deutschen Staat deswegen mit den Taliban gleichsetzen? Viele unserer Kamerad*innen haben sich deshalb dafür entschieden, der ukrainischen Armee beizutreten, weil die Alternativen viel schlimmer sind.

Das heißt, Sie sehen keinen Weg, außerhalb staatlicher Strukturen gegen die Invasion zu kämpfen?

Leider leben wir nicht im beginnenden 20. Jahrhundert und man kann hier keine Machnowschtschina (eine arnarchistische Partisanen- und Bauernbewegung aus der Zeit des russischen Bürgerkriegs zwischen 1917 und 1922, Anm. d. Red.) organisieren. Selbst wenn du versuchst, eine autonome Einheit zu formieren, werden dich die Sicherheitsdienste noch im selben Augenblick verhaften: »Jungs, wer seid ihr? Was macht ihr mit den Gewehren (lacht)? Seid ihr russische Saboteure? Selbst wenn ihr mit euren eigenen Waffen irgendwie an die Front kommt und versucht, allein gegen Russland zu kämpfen, werdet ihr vernichtet, wenn ihr euch nicht mit den Einheiten der ukrainischen Armee abstimmt.« Wir können die Invasion nicht außerhalb staatlicher Strukturen bekämpfen.

Gibt es pazifistische Wege, gegen die Invasion vorzugehen?

Ich hoffe, dass ich mich irre, aber ich sehe sie nicht. Ich lese Artikel von Pazifist*innen, aber finde keine realistische Antwort darauf, wie man Panzer aufhalten, Raketen abschießen und die eroberten Gebiete zurückgewinnen kann, ohne Waffen und Menschen, die bereit sind zu kämpfen. Diese Friedenspläne, zum Beispiel von China, sind Worthülsen voller Widersprüche. Einerseits sagen sie, dass sie die territoriale Souveränität der Ukraine anerkennen, andererseits zeigen sie Verständnis für die militärischen Interessen Russlands. Aber wenn man die Souveränität der Ukraine anerkennt, folgt daraus, dass man von Russland verlangen muss, seine Truppen aus all diesen Gebieten abzuziehen. Das Gleiche gilt für die deutsche Linke. Ihre Vorschläge lauten eigentlich immer: Hört einfach auf, euch gegenseitig zu erschießen. Aber was sollen wir mit den besetzten Gebieten machen? Was sollen wir mit der Krim machen? Was sollen wir mit dem Donbass tun?

Ist die ukrainische Bevölkerung zum Spielball der Imperialisten geworden? Ein weiterer Stellvertreterkrieg?

Über Politik denke ich nicht in diesen geopolitischen Begriffen nach. Leute, die das sagen, sehen die Ukraine nur als »Marionette westlicher Imperialisten«. Das ist verschwörungstheoretisches Denken. Bei jedem Ereignis auf der Welt haben Eliten ein Interesse, aber es gibt immer auch das Interesse der Menschen vor Ort. Es sind nicht die USA oder die Nato, die uns in den Krieg treiben. Nein, es ist die ukrainische Bevölkerung, die keine Gebietsverluste hinnimmt. Die Menschen im Ausland wollen das nicht verstehen. Wenn Präsident Wolodymyr Selenskyj sagt: Okay, wir ziehen uns zurück, wir kapitulieren, wir geben einen Teil unserer Gebiete auf, weil wir den Krieg beenden wollen, dann wird die Bevölkerung seine Regierung morgen stürzen. Nicht weil wir Krieg lieben, nicht weil uns der Westen gesagt hat, was wir tun sollen, sondern weil das für uns eine existenzielle Frage geworden ist.

Die Ukraine verlangt mehr Waffen, Panzer, Kampfflugzeuge, alles, was möglich ist. Haben Sie keine Angst, dass dieser Krieg zum Dritten Weltkrieg eskalieren könnte?

Ich glaube nicht, dass der Krieg in den Dritten Weltkrieg führt. Wir haben zum Beispiel Panzer bekommen – wo ist der Dritte Weltkrieg? Am Anfang hat die Ukraine nur Panzerabwehrsysteme bekommen. Jedes Mal wird Russland drohen: Wenn ihr diese rote Linie überschreitet, werden wir etwas sehr Radikales tun. Sie haben es nie getan, weil sie wissen, dass sie es mit der Nato nicht aufnehmen können. Jetzt sieht Russland, dass niemand vor ihnen Angst hat. Wir sollten keine Angst vor einem Dritten Weltkrieg haben. Russland wird ihn niemals beginnen.

Was möchten Sie den Linken in Deutschland sagen?

Die Solidarity Collectives sind von mehreren Seiten unter Beschuss. Die Hauptbedrohung ist die russische Invasion. Es gibt eine von der Invasion verursachte konservative Renaissance in der Ukraine. Und dann gibt es noch die Kritik der Westler*innen, weil wir nicht in ihre Vorstellungen von guten Anarchist*innen passen. Leider haben wir nicht die Möglichkeit, Bilderbuchanarchist*innen zu sein. Wir wollen euch nicht belehren, aber unsere Realität ist eine andere als eure. Wenn ihr uns unterstützt, gebt ihr uns mehr Möglichkeiten, um gegen den russischen Imperialismus zu kämpfen.

Heute werden die Spenden westlicher Linker nicht nur in kugelsichere Westen oder Militärstiefel umgewandelt, sie fließen in die Zukunft der ukrainischen antiautoritären Bewegung. Je stärker wir heute sind, desto mehr Chancen werden wir in Zukunft haben, uns den Konservativen entgegenzustellen. Antiautoritäre könnten sich dann daran beteiligen, die beinahe faschistischen Regime von Putin und Lukaschenko zu stürzen. Wir alle wollen, dass dieser Krieg aufhört. Aber wir sind nicht bereit, die besetzten Gebiete aufzugeben. Wir müssen kämpfen. Wenn ihr uns nicht helfen wollt, versucht zumindest zu verstehen, wieso wir diese schwierige Entscheidung getroffen haben.

Anarchist*innen in der Ukraine: "Wir fahren bis an die Frontlinien, um zu helfen"
Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.