Menschen mit Behinderungen: Lohn zweiter Klasse

In Werkstätten bekommen Menschen mit Behinderungen nur einen Armutsgroschen, Übergänge in reguläre Arbeit sind selten

  • Christian Lelek
  • Lesedauer: 4 Min.

»Ich vertrete 10 000 Menschen, die in Berlin in 16 Werkstätten arbeiten. Ich freue mich über Leichte Sprache und ich habe ein Stoppschild dabei, falls es mir hier zu schnell gehen sollte«, sagt Petra Barth im Abgeordnetenhaus. Sie ist Vorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft Werkstatträte in Berlin, der Interessenvertretung von Menschen mit Behinderungen in Werkstätten.

Deren Lage und insbesondere deren Bezahlung war am Donnerstagvormittag Thema im Ausschuss für Arbeit und Soziales. 2022 lag der durchschnittliche Monatslohn in Werkstätten bei 220 Euro. Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit liegt dabei laut einer Studie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales bei 37 Stunden.

Im Abgeordnetenhaus trägt Barth die Forderungen der Werkstatträte vor. Lohnerhöhungen und Sonderzahlungen sollten nicht mehr auf die Grundsicherung angerechnet werden. Und: »Beschäftigte aus allen Werkstätten sollten eine einheitliche Vergütung aus einem Topf bekommen.« Gegenwärtig ist die Vergütung ein Flickwerk und in Teilen an individueller Arbeitsleistung bemessen.

Gegenüber »nd« unterstreicht Lulzim Lushtaku, Vorsitzender der »Werkstatträte Deutschland«, des Zusammenschlusses der Landeswerkstatträte, die Notwendigkeit besserer Bezahlung. Die Löhne hätten Armut zur Folge. Die Räte fordern daher ein staatliches Basisgeld von 70 Prozent des Durchschnittsnettolohns. Für eine*n kinderlose*n Single wären das 1700 Euro im Monat.

Während der Ausschusssitzung wurden verschiedene weitere Lösungsansätze diskutiert. Catrin Wahlen von den Grünen erklärte, dass jede Art und jedes Maß an Arbeit mit dem Mindestlohn anzuerkennen sei. Dazu müssten Werkstättenbeschäftigte allerdings den Arbeitnehmer*innenstatus erhalten. »Es ist absurd. Bei Menschen mit Behinderungen wird genau geschaut, ob sie eine dem Mindestlohn angemessene Arbeitsleistung erbringen. Bei einem CEO eines privatwirtschaftlichen Unternehmens hingegen wird nicht geprüft, ob die Summe, die verdient wird, der Arbeitsleistung angemessen ist.«

Arbeiten, die in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen verrichtet werden, sind häufig essentieller Teil von Produktionsketten namhafter Unternehmen. Nicht selten werden die Werkstätten dabei nach wirtschaftlichen Kriterien beauftragt. Sie stehen in Konkurrenz mit Betrieben in Osteuropa, die sich ebenfalls als billige Standorte anbieten.

Eigentlich sieht das Sozialgesetz vor, dass in Unternehmen mit mehr als 20 Beschäftigten fünf Prozent der Arbeitsplätze von Menschen mit Behinderungen besetzt werden. Wird diese Vorgabe nicht eingehalten, werden Ausgleichsabgaben fällig. Die Wirkung scheint allerdings begrenzt. So mussten 2020 laut Bundesagentur für Arbeit von 170 000 verpflichteten Arbeitgebern nur 70 000 keine Abgaben zahlen. Etwa 300 000 für Menschen mit Behinderungen vorgesehene Arbeitsplätze blieben unbesetzt. Christoph Wapler (Grüne) meint: »Für eine gelingende Inklusion sehe ich die Unternehmen in der Verantwortung, sich weiter zu öffnen.« Die Runde antwortet mit zustimmenden Klopfzeichen.

Die Rentenversicherung begutachtet Arbeiter*innen, wenn Zweifel über ihr Arbeitsvermögen besteht. Wird geschätzt, dass sie weniger als drei Stunden pro Tag arbeiten können, gelten sie als voll erwerbsgemindert. Die Betroffenen erhalten dann in der Regel Grundsicherung und verlieren ihren Arbeitnehmer*innenstatus. Sogenannte arbeitnehmer*innenähnliche Arbeitsverhältnisse seien vom Mindestlohn ausgenommen, sagt Arbeits- und Sozialsenatorin Cansel Kizeltepe (SPD) im Ausschuss. »Von daher sind das alles Themen, die die Bundesebene betreffen.«

Es ist nicht nur der Ausschluss vom Mindestlohn, der mit fehlendem Arbeitnehmer*innenstatus einhergeht. Auch das Recht, sich in Gewerkschaften zusammenzuschließen und Arbeitskämpfe zu führen, besteht nicht. Da aber Werkstättenbeschäftigte derzeit beispielsweise besser vor Kündigungen geschützt sind, fordern die Werkstatträte kurzfristig die Beibehaltung der Regelung und langfristig eine Prüfung, inwieweit ein Arbeitnehmer*innenstatus mit besonderen Schutzrechten kombinierbar wäre.

Über den Erhalt des Systems der Werkstätten gibt es in den Selbstvertretungen unterschiedliche Ansichten. Vertreter*innen, die es in Frage stellen, waren am Donnerstag nicht zugegen. Es wurde aber klar, dass das Ideal der durchlässigen und qualifizierenden Werkstatt verfehlt wird. Weniger als ein Prozent der Beschäftigten gelangt auf den ersten Arbeitsmarkt. Sie sei für den Erhalt, sagt Barth. »Jeder kann aus dem ersten Arbeitsmarkt fallen, da gibt eine auffangende Werkstatt Sicherheit.«

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