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Die begehrte Nummer 5

Vier Frauen bewerben sich für den fünften Listenplatz der Linken bei der Europawahl

Samstag, der 2. September, es sind noch 14 Tage, bis der Bundesausschuss der Linken einen Vorschlag für die Liste zur Europawahl erarbeiten soll. Der parteiinterne Wahlkampf ist angelaufen. Die ersten vier Plätze sind schon aussichtsreich belegt – mit dem Parteivorsitzenden Martin Schirdewan, der politischen Aktivistin Carola Rackete, Özlem Alev Demirel, die bereits EU-Parlamentsabgeordnete ist, und dem Arzt Gerhard Trabert. Besonders begehrt ist der fünfte Platz auf der Liste. Vier Frauen, die in Berlin leben, bewerben sich auf den womöglich letzten aussichtsreichen Platz für einen Sitz im Europaparlament.

Wo sie an diesem Samstag sind, zeigt, wie unterschiedlich sie ihre Kandidatur angehen. Da ist Frederike Gronde-Brunner, Referentin für Europa- und Entwicklungspolitik der Linksfraktion im Potsdamer Landtag, die in Rostock mit Genoss*innen über Europa diskutiert und an einem Friedensfest in Graal-Müritz teilnimmt. Didem Aydurmuş ist Mitglied des Parteivorstandes. Sie sitzt mit Mitstreiter*innen aus der Ökologischen Plattform in der Düsseldorfer Landesgeschäftsstelle der Linken und diskutiert über Änderungsanträge zum Europawahlprogramm. Die beiden anderen Bewerberinnen für den fünften Listenplatz, die Publizistin Ines Schwerdtner und Daphne Weber aus dem Parteivorstand der Linken, sitzen auf Podien bei der Zukunftskonferenz der Bewegungslinken. Weber spricht mit dem Philosophen Guillaume Paoli über Klima, Krisen, Katastrophen und die Linke. Schwerdtner diskutiert darüber, ob die Konzepte der Mosaik-Linken und der verbindenden Klassenpolitik gescheitert sind.

Didem Aydurmuş
Didem Aydurmuş

Den ungewöhnlichsten Weg, für die eigene Kandidatur zu werben, hat wohl Didem Aydurmuş gewählt. Das ganze Wochenende mit der Ökologischen Plattform zu verbringen, wird ihr kaum neue Zustimmung bringen. Sie ist Sprecherin der Vereinigung, die immerhin mehrere hundert Mitglieder hat. Zum Bundestreffen kommt davon allerdings nur ein Bruchteil. Wäre es für Aydurmuş nicht sinnvoller, bei der Zukunftskonferenz zu sein, wo fast 400 Menschen sind? Hätte sie da nicht ein ungleich größeres Publikum? »Was soll ich da?«, fragt sie zurück. Es sei viel wertvoller, am Europawahlprogramm zu arbeiten, sich zu überlegen, welche Änderungen sinnvoll sind.

Essen ist politisch

»Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, die Linke ein wenig zu ökologisieren«, erzählt die 39-Jährige. Eine »eigene Handschrift« in Beschlüsse und Programme der Partei einbringen, das ist ihr wichtig. Am Freitagabend sitzt Aydurmuş mit anderen aus der Ökologischen Plattform vor einem Düsseldorfer Gasthaus. Es wird über den Zustand der Partei geredet, die neue Ausgabe der »Tarantel«, die Zeitung der Plattform, besprochen und sich darüber ausgetauscht, was am nächsten Tag ansteht. Man merkt schnell, dass Aydurmuş hier die Hosen anhat. Sie hat organisiert, wer wo schläft und wann es am nächsten Morgen losgeht. Auch das Frühstück für den Tag will sie selbst zubereiten.

Essen ist für die Frau, die von sich selbst sagt, dass sie wegen ihres »Fleißes« und ihrer »Herzlichkeit« in den Parteivorstand gewählt wurde, auch ein politisches Thema, eins, das auf die europäische Agendapolitik gehört. »In den nächsten fünf Jahren werden entscheidende Weichen gestellt, ob wir es schaffen, eine Zukunft ohne Hunger zu gestalten«, sagt sie zu ihrer Motivation, sich für einen Sitz im Europäischen Parlament zu bewerben. Die Agrarsubventionen seien der größte Topf in Europa und gleichzeitig habe die industrielle Landwirtschaft den weltweit größten CO2-Fußabdruck. Sie irritiert, dass »total wenig« über Landwirtschaft gesprochen wird. Das will sie ändern. Bei den Agrarsubventionen müsse umgedacht werden »und zwar so, dass wir in Zukunft alle noch Wasser haben und dass in Zukunft alle noch was zu essen haben«.

Bei Obst und Gemüse habe Deutschland lediglich einen Selbstversorgungsgrad von 30 Prozent. Das sei verheerend. »Essen ist Energie, die wir alle brauchen«, erklärt sie, beim Erdgas habe man gesehen, welche Sorgen drohende Mängel in der Energieversorgung auslösen. Aydurmuş’ Ziel, ein europäisches Versorgungssystem zu schaffen, das auch Ernteausfälle ausgleicht und dafür sorgt, dass niemand hungern muss. Besonders im Blick hat sie dabei arme Familien. Heute müssten zu viele Kinder »leere Kalorien« wie Toast und Nudeln essen. Didem Aydurmuş findet, Eltern müssten es sich leisten können, »anständiges Gemüse auf den Tisch zu bringen«. Armut und Ungleichheit, das seien ihre Themen, sagt Aydurmuş.

Politik ist ihr quasi »mit der Muttermilch in die Wiege gelegt worden. Ihr Vater sei ein Revolutionär in der Türkei gewesen und in den 1970ern nach Deutschland geflohen. Ihre Mutter kam »aus der Kolpingstiftung zum Kommunismus«. Zu Demonstrationen und Festen ist sie als Kind von ihren Eltern, die in der DKP aktiv waren, schon immer mitgenommen worden. Alleine protestieren gegangen ist sie zum ersten Mal 2003 – gegen den Irak-Krieg. Familiäre Verbindungen sind es jetzt auch, die dafür gesorgt haben, dass bei Kundgebungen im kurdischen Diyarbakir Plakate für Aydurmuş’ Kandidatur für das Europaparlament aufgetaucht sind.

Europa to go

Ein Podcast, der dich anlässlich der Europawahl 2024 ins »Herz« der EU mitnimmt. Begleite uns nach Brüssel und erfahre mehr über Institutionen wie das Europäische Parlament, was dort entschieden wird und warum dich das etwas angeht. Der Podcast ist eine Kooperation von »nd«, Europa.Blog und die-zukunft.eu. Alle Folgen auf dasnd.de/europa

Kampf gegen den Rechtsruck

»Ist Hildesheim so langweilig, dass man bei der Linkspartei landet?« Auf diese Frage lacht Daphne Weber laut und herzlich. In der niedersächsischen Stadt hat sie studiert und gemerkt, was es bedeutet, politisch einen »Unterschied« zu machen. Mit dem Studierendenverband SDS hat sie hier Veranstaltungen zum 8. März und gegen Nazis organisiert. Politisiert wurde die 28-Jährige schon vorher in München, als Pegida und die AfD aufgetaucht sind. »Ich habe da gemerkt, dass neue gefährlichere rechte Bewegungen entstehen.« Im konservativen Bayern seien sie als Antifaschist*innen dabei von vielen als das größere Problem wahrgenommen worden. Der Rechtsruck ist auch etwas, das Weber in Europa beschäftigt. Das Erstarken der AfD werde in Deutschland als »isoliertes Phänomen« betrachtet, obwohl es in ganz Europa einen Rechtsruck gibt. »Ich möchte da mit unseren europäischen Schwesterparteien schauen, dass wir kollektive Antworten finden.«

Daphne Weber
Daphne Weber

Die europäische Vernetzung ist Daphne Weber wichtig. Sie ist Mitglied der Internationalen Kommission der Linken und hat mit Martin Schirdewan eine Initiative für den 8. Mai als europaweiter Feiertag gestartet. 2025 soll dieser kommen, dann will Daphne Weber schon im Europaparlament sitzen. Was hat sie dort vor? Sie zählt »vier Visionen« auf – erstens: Weil es im Europaparlament ein wenig anders läuft als im Bundestag, hofft sie, etwas bewegen zu können, damit sichere Schwangerschaftsabbrüche möglich sind. Zweitens: Den Green Deal der EU möchte sie in einen sozialen und sozialistischen Green Deal umbauen. Drittens: Strukturschwache Regionen sollen gefördert werden und das Soziale soll künftig im Mittelpunkt stehen. Auch um das zu realisieren, möchte Weber – viertens – »Großkonzerne an die Kandare nehmen«. Sie will Politik aus der Sicht der »Klassenbrille« machen, man müsse immer die Interessen derjenigen vertreten, die abhängig beschäftigt sind, es waren oder sein werden.

Mit der Klassenbrille hat Daphne Weber es auch zu einigen Fernsehauftritten gebracht. Mit einem Rüstungslobbyisten diskutierte sie über Waffenexporte und mit dem Fernsehmoderator Waldemar Hartmann und CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann über die Vier-Tage-Woche und einen Bierpreisdeckel. Weber sagt, das seien »herausfordernde Situationen«, die Rollenverteilung sei immer klar gewesen: alle gegen Einen. »Das ist wie eine Stunde Moshpit, so was mag ich immer.« Es sei doch »der eigentliche Zweck der Linken sich, verflacht gesagt, mit den Kapitalisten anzulegen«, sagt Weber.

Beim Zukunftskongress der Bewegungslinken gab es für sie keinen Moshpit (was eigentlich das raue Tanzen vor der Bühne bei Punk- oder Hardcorekonzerten meint), sondern ein in Teilen kontroverses Gespräch mit dem Philosophen Guillaume Paoli. Diskutiert wurde auch etwas später, als Ines Schwerdtner auf einem Podium zu linken Konzepten saß. Schwerdtner ist die wohl bekannteste Bewerberin um den fünften Listenplatz. Ihre Kandidatur präsentierte die frühere Chefredakteurin des Magazins »Jacobin« Ende August mit einem Video und auf die Bewerbung abgestimmter Homepage. Im »nd« erklärte sie ihre Motivation in einem ausführlichen Interview. Es brauche zwingend eine starke linke Partei, so ihre Einschätzung, sonst würden auch die sozialen Bewegungen geschwächt.

Schnittstelle der Linken

Das komplette Gegenteil in Sachen Präsentation ist Frederike Gronde-Brunner. Auf ihrer privaten Facebook-Seite finden sich ein paar Berichte von Terminen in den letzten Tagen, wie dem Friedensfest im Ostseebad Graal-Müritz. Auf große digitale Werbung für sich selbst verzichtet die 38-Jährige. Dabei ist sie sich schon lange sicher, für das Europaparlament zu kandidieren. Bereits im März gaben die Landesvorstände der Linken in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern ihre Empfehlung für Gronde-Brunner auf der Europawahlliste ab. Das ist kein Zufall, als Mitarbeiterin des langjährigen EU-Abgeordneten Helmut Scholz weiß sie sehr genau, worum es in Europa geht.

Frederike Gronde-Brunner
Frederike Gronde-Brunner

Angefangen bei Scholz hat Gronde-Brunner 2016, in seinem Büro für Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Zur Linken gekommen ist sie vor etwa zehn Jahren. In ihrer Ausbildung in der Hotellerie erlebte sie die »Schlüsselmomente« für ihre Politisierung. Das »krasse Lohngefälle« und die Ausbeutung besonders von ausländischen Kolleg*innen haben sie dazu gebracht, darüber nachzudenken, wie sie sich »gesellschaftlich einbringen« kann. Ein sozialwissenschaftliches Studium folgte. Bei der Linken hat sie, noch vor ihrem Eintritt, ein Praktikum in der Bundesgeschäftsstelle gemacht. Ungewöhnlich? »Ich schaue gerne, worauf ich mich einlasse«, sagt Gronde-Brunner. Sich auf die Linke einzulassen, hat ihr offenbar gefallen. In Charlottenburg-Wilmersdorf zog sie 2016 in die Bezirksverordnetenversammlung ein. Zusätzlich zum Job bei Helmut Scholz wurde sie Europareferentin bei der Linksfraktion in Brandenburg.

Frederike Gronde-Brunner vereint viele Schnittstellen, vom Bezirk übers Land bis Europa. Das merkt man auch, wenn sie über ihre Themen spricht. Eines wäre eine sozial- und klimagerechte Verkehrspolitik. »Wenn wir es schaffen, zu einer gemeinschaftlichen Verkehrspolitik zu kommen, dann wird vieles einfacher.« Mit viel Leidenschaft erzählt Gronde-Brunner, was in dem Bereich falsch läuft, von Verzögerungen durch Bremswechsel von Güterzügen an Grenzen, über fehlende Pendler*innenstrecken zwischen Polen und Brandenburg, bis zur Kritik, dass sich eine Bahnfahrt nach Spanien derzeit nur »privilegierte Menschen« leisten könnten.

Von Helmut Scholz würde sie gerne den Bereich »Konstitutionelles« übernehmen. Das höre sich auf den ersten Blick zwar »trocken« an, da sei in Sachen Bürgerbeteiligung aber viel möglich. Frederike Gronde-Brunner ist davon überzeugt, dass die Menschen weiter sind als die europäischen Institutionen. Sie will sich dafür einsetzten, dass das Parlament, als »einzige vom Bürger direkt gewählte Institution«, künftig die Mitglieder der EU-Kommission wählen kann. Mehr Mitbestimmung, weniger Abschottung und mehr Gerechtigkeit, dafür will sich Frederike Gronde-Brunner in Brüssel und Straßburg einsetzen.

Der Bundesausschuss der Linken hat am 16. September keine leichte Wahl. Folgt er bei den ersten vier Listenplätzen nicht dem Vorschlag der Parteivorsitzenden, würde das die ganze Partei noch tiefer in die Krise stürzen. Für den fünften und derzeit letzten halbwegs aussichtsreichen Listenplatz hat das Gremium dagegen die Qual der Wahl. Vier Bewerberinnen mit ganz unterschiedlichen Stärken treten gegeneinander an.

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