Werbung
  • Politik
  • Todestag von Jina Mahsa Amini

Iran: »Die Revolution hat die Opposition überholt«

Shoan Vaisi, Exiliraner und Linke-Politiker, erklärt, warum das Regime nicht gestürzt wurde, aber die Proteste trotzdem erfolgreich waren

Vor einem Jahr, als die neue Protestbewegung im Iran entstand, haben viele gehofft, dass sie zum Sturz des Regimes führen würde. Doch dazu kam es nicht. Wieso?

Die Proteste waren mit sehr viel Hoffnung verbunden. Und Hoffnung überdeckt manchmal die Realität. Zwar protestierten zum ersten Mal so viele Menschen mit unterschiedlichen politischen Hintergründen zusammen. Das war seit der Gründung der Islamischen Republik Iran vor 44 Jahren beispiellos und weckte die Hoffnung, dass die Proteste dieses Mal das Regime schnell stürzen könnten. Doch Revolutionen können manchmal über Jahre dauern. Im Iran ist der erste Schritt getan, nämlich dass die Menschen die Kraft und den Zusammenhalt gefunden haben, gemeinsam zu kämpfen. Das war ein sehr großer und wichtiger Schritt.

Was heißt das konkret? Was sind die einzelnen Gründe dafür, dass es bislang nicht zu einem Sturz des Regimes kam?

Der Grund ist vor allem die Brutalität des Regimes, das um jeden Preis an der Macht bleiben will. Die Sicherheitskräfte haben in kürzester Zeit viele Menschen auf offener Straße getötet, Zehntausende festgenommen. Auch die Opposition hat nicht immer eine positive Rolle gespielt. Sie ist sehr schnell in Streitereien geraten.

Hat die iranische Opposition in der Diaspora, und ich würde die kurdische Diaspora hinzufügen, die Revolution teilweise geschwächt?

Interview
Shoan VaisiFoto: ?

Shoan Vaisi ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Linken im Rat der Stadt Essen. Der kurdische Aktivist ist aus dem Iran geflohen und lebt seit 2011 in Deutschland.

Ja, das hat aber auch damit zu tun, dass die oppositionellen Kräfte im Vorhinein nicht mit so einer Revolution gerechnet haben. Die Revolution hat die Opposition überholt. Diese war immer gespalten und hat es auch diesmal nicht geschafft, den historischen Moment zu nutzen, um einen gemeinsamen Nenner zu finden und daraus Schlüsse zu ziehen. Stattdessen hat man angefangen, über Unterschiede zu reden, auch in Bezug auf Kurden. Schnell hat ein Teil der Opposition wieder angefangen, von den Kurden als separatistischen Kräften zu sprechen, die das Land spalten wollten.

Was der Islamischen Republik nicht gelungen ist, haben also Teile der Opposition in der Diaspora für sie erledigt?

Vor allem die rechte Opposition hat geschafft, was dem Regime nicht gelungen ist, nämlich die Menschen zu spalten. Sie hat das komplette Klima vergiftet. Sie hat im Grunde die Propaganda des Regimes gegen Kurden und gegen andere Minderheiten wiederholt. Dabei haben die Menschen im Iran zusammen gekämpft, man hat überall im Iran Rufe der Solidarität mit Menschen in Kurdistan oder Belutschistan gehört. Das war historisch. Aber Teile der Opposition haben das, was erreicht wurde, zerstört.

Was ist nun mit der Jin-Jian-Azadi-Revolution? Ist sie schon gescheitert?

Das würde ich nicht so sagen. Die Monate am Anfang, als Menschen gleichzeitig in allen 31 Provinzen im Iran demonstrierten, das war der Höhepunkt der Revolution. Dann konnte das Regime die Straße durch Brutalität zurückerobern. Auch durch Hinrichtungen wurde ein Klima der Angst geschaffen. Und ja, wir sehen momentan kaum Bilder von Massendemonstrationen. Aber wenn man die Revolution als etwas Längerfristiges betrachtet, erkennt man einen Prozess. Wir haben ununterbrochen mit den Kämpfen der Menschen zu tun, etwa mit Frauen, die ihre Kopftücher ablegen. Sie leisten weiter Widerstand. Oder die Proteste in den Unis und die Streiks in den kurdischen Gebieten. Auch Lehrer und Rentnerinnen protestieren weiter. Die Revolution ist all das.

Es gibt also noch Hoffnung. Sie haben aber auch die Hinrichtungen und vielen Festnahmen erwähnt. Muss man nicht zugeben, dass die Repression ein wirksames Instrument für Irans Machthaber ist, mit dem sie die Proteste immer wieder wirksam unterdrücken können?

Ja, dadurch konnte das Regime die Straßen erobern. Aber was es nicht schafft, ist, die Menschen zu erobern.

Der Aufstand hat zuerst die kurdischen Städte des Iran erfasst. Kurden waren zu Beginn die Anführer der Proteste und Streiks. Die Stärke der Kurden, sich gut organisieren zu können, hat die Proteste monatelang und pausenlos am Leben gehalten. War das auch ein historischer Moment für die kurdische Bewegung selbst?

Teller und Rand – der Podcast zu internationaler Politik

Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.

Ja, auf jeden Fall. Kurden haben jahrelang alleine gekämpft. Jetzt aber, seit Anfang dieser revolutionären Bewegung, haben sich auch andere auf ihre Seite gestellt. Diese Solidarität und den Zusammenhalt zwischen Kurden und Nichtkurden gab es so zum ersten Mal. Kurden haben es geschafft, Menschen im ganzen Land auf die Straßen zu bringen. Damit haben sie etwas Großartiges geleistet.

Dadurch hat sich die Rolle der Kurden auf der politischen Ebene im Iran verändert. Es entwickelte sich eine öffentliche Akzeptanz für die Kurden als wichtige politische Akteure, und zwar nicht nur auf regionaler Ebene, sondern auch landesweit. Haben die Kurden dieses Momentum verbockt?

Das ist ein wichtiger Punkt. Einerseits haben viele Menschen gesehen, dass das, was das Regime jahrelang über Kurden erzählt hat, nicht stimmt. Andererseits waren die Kurden aber zunächst gar nicht bereit für eine Revolution und konnten daher ihrer Rolle nicht gerecht werden. Und dann haben sie auch mit teilweise gegensätzlichen Positionen dazu beigetragen, die Revolution zu schwächen. Da haben sie ihre Fehler gemacht. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es am Anfang die Aufrufe der kurdischen Parteien im Iran waren, die zu erfolgreichen Streiks führten.

Die Islamische Republik herrscht noch immer, Erfolge hatte die Revolution trotzdem zu verzeichnen. Was sind Ihrer Meinung nach ihre wichtigsten Erfolge?

Ein großer Erfolg ist, dass Menschen im Iran schichtübergreifend und trotz unterschiedlicher politischer Einstellungen und unterschiedlicher religiöser und ethnischer Hintergründe zusammengekommen sind und unter einer Parole gekämpft haben. Außerdem konnte der Zusammenhalt gegen das Regime insgesamt das Selbstbewusstsein von Menschen im politischen Kampf stärken. Viele junge Frauen haben gesehen, dass sie zusammen etwas erreichen können, auch wenn das lange dauert. Die Menschen glauben jetzt daran, dass sie durch ihre Kraft etwas erreichen können. Gleichzeitig kann man viele kleine Fortschritte in verschiedenen Bereichen sehen: das Bewusstsein für die Klimakrise oder für die Rechte von Frauen. Und das Bewusstsein der Mehrheitsgesellschaft für Minderheiten wie Kurden und Belutschen. Das alles sind Erfolge der Jin-Jiyan-Azadî-Revolution, die man nach einem Jahr feststellen kann.

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal