Die Zukunft der Kritischen Theorie

Kritische Theorie kommt zu ihrem Jubiläum »auf den Prüfstand«. Eine Glosse zum Stand gegenwärtiger kritischer Theorien

Wie lässt sich die Tradition Kritischer Theorie heute neu bestimmen? Auf der Konferenz »Futuring Critical Theory« wurde dazu auch mal Adornos Geburtshoroskop gezeigt.
Wie lässt sich die Tradition Kritischer Theorie heute neu bestimmen? Auf der Konferenz »Futuring Critical Theory« wurde dazu auch mal Adornos Geburtshoroskop gezeigt.

Wer es noch nicht mitbekommen hat: Das Institut für Sozialforschung (IfS) feiert dieses Jahr seinen 100. Geburtstag und damit das Bestehen und die Tradition der Kritischen Theorie.

Was war das gleich noch mal? Ganz allgemein gesagt handelt es sich bei der Kritischen Theorie um die Erkenntnis der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft als Ganzer und der Ideologien, die sie am Laufen halten. So abstrakt kann darunter alles Mögliche fallen, das sich irgendwie »kritisch« zur Gesellschaft verhält. Lange schon spricht man daher von »kritischer Theorie mit kleinem k«. Lassen sich also Rassismus-, Kolonialismus-, Sexismus- oder Zivilisationskritik so zu einem gemeinsamen Programm vernähen?

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Das zumindest schien das Anliegen des IfS mit der internationalen Tagung »Futuring Critical Theory« zu sein, die als Höhepunkt der inhaltlichen Neuausrichtung des Instituts im Jubiläumsjahr vom 13. bis 15. September stattfand. »Auf den Prüfstand« wollte man die Kritische Theorie stellen und entsprechend des Titels für die Zukunft fit machen. Dieses Projekt folgte vier Prozesslogiken: Die Kritische Theorie wird seziert, globalisiert, materialisiert und neu zusammengesetzt. Wo hat sie blinde Flecken? Wo kann man synthetisieren und verbessern? Das klingt nicht umsonst nach Managementjargon; ein im Universitätsbetrieb zeitgemäßes Institut und die zeitgemäßen Theoretiker*innen müssen eben abliefern.

»Kritisch« zu sein ist unter diesen Zwängen kein Wettbewerbsnachteil mehr und verhältnismäßig einfach umzusetzen. Man kann einzelne Begriffe mit anderen (sich zum Teil widersprechenden) Theoriegebäuden koppeln oder sie aus dem Gesamtzusammenhang lösen und zu »wichtigen Begriffen der Sozialphilosophie«, also zum Schlagwort, degradieren. Oder man wird kreativ wie Poulomi Saha, die auf der Diskussion am Donnerstagabend Adornos Geburtshoroskop zeigte, wie es auf Twitter/X kursierte.

Die Neuaneignung geht einher mit der Würdigung im Gedenken. So steht etwa an der US-amerikanischen Harvard University im Oktober eine weitere Jubiläumskonferenz mit hochkarätigem »Lineup« bevor. Deren Ankündigung verspricht gewohnten Musealisierungsgestus: So richtig die Analysen der Kritischen Theorie damals waren, so unzeitgemäß sind sie heute (Stichwort Zeitkern) und deshalb könne man nur noch »in ihrem Geiste« denken.

Dem Geiste huldigen ist religiöses Denken, »Futuring« die instrumentelle Zurichtung der Theorie. Gegen beides hatte sich die Kritische Theorie vehement gestellt. Denn ihr Attribut »kritisch« hatte spezifische Bedeutung: Vom Zivilisationsbruch der Shoah aus zeigte sich »die wirkliche Bewegung der bürgerlichen Gesellschaft als ganzer«, wie es in der »Dialektik der Aufklärung« heißt, zu der die Gedankenformen als Ideologie dazugehören. Kritisch hatte die Theorie also zu allererst gegen sich selbst zu sein, um am eigenen Denken die falsche Welt auszumachen.

Solche Selbstreflexion sucht man im Jubiläumsjahr vergebens. Entsprechend kann noch so radikal der Kapitalismus, seine koloniale und patriarchale Herrschaft oder Naturausbeutung, gegeißelt werden – die kritischen Theorien der Zukunft gehören fröhlich dazu, ob sie es wissen oder nicht.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels konnte der Eindruck entstehen, es würde sich um einen Tagungsbericht handeln. Zur Klarstellung änderte die Redaktion die Unterzeile, in der nun eindeutig auf die Textform der Glosse hingewiesen wird.

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