Afghanistan-Aufarbeitung: Leugnen, was das Zeug hält

Daniel Lückig über die Aufarbeitung des Afghanistan-Kriegseinsatzes

Immer mal wieder veranstaltet die Afghanistan-Enquete-Kommission im Bundestag unter der Leitung von Michael Müller (SPD) öffentliche Anhörungen. Lehren sollen gezogen werden, wie das vernetzte Engagement Deutschlands in zukünftigen Einsätzen aussehen solle. Nicht nur für Soldat*innen, die in dem Land eingesetzt wurden, fördert das mitunter bittere Erkenntnisse zu Tage. Auch die Politik steht in der Kritik. Sehr gelassen sprechen Expert*innen nun Wahrheiten aus, die in den vergangenen Jahren stets mindestens vermieden, mal unter den Teppich gekehrt oder aktiv bestritten wurden.

Bjørn Tore Godal, der bereits in Norwegen einer vergleichbaren Aufarbeitungskommission angehörte, war bereits seit 2014 mit der Evaluation des norwegischen Afghanistan-Kriegseinsatzes befasst. Teils gegen Widerstände aus dem Parlament fand Aufarbeitung statt, schildert er. So habe zum Beispiel die Eingliederung ehemaliger Warlords in den Wiederaufbau des Landes dazu geführt, dass sich Machtkämpfe verschlimmerten, was auch Machtmissbrauch und Korruption beförderte. Godal beschreibt, dass Parlament und Öffentlichkeit überrascht waren, was die Kommission ans Licht der Öffentlichkeit brauchte, denn bekannt waren meist nur die Erfolgsmeldungen aus dem Land, nicht aber die nötige Kritik.

Die deutsche Politik wird damit in doppelter Hinsicht vorgeführt. Nicht nur, dass die Evaluation des Einsatzes und seiner Zielsetzungen erst am Ende des über 20 Jahre andauernden Engagements steht und damit erst 2021 begonnen wurde. Mehr noch: Seit mit der Unterrichtungen des deutschen Parlaments im Jahr 2012 längst die Erkenntnis da war, dass die Einsatzvorfälle mindestens gegenüber der Öffentlichkeit, aber auch gegenüber dem Parlament geschönt wurden, gab es überdeutlichen Evaluationsbedarf. Die Reaktion aus dem Verteidigungsministerium war jedoch nicht etwa, diese Aufarbeitung zu beginnen. Die Militärs gingen zum Gegenangriff über. Die WAZ-Mediengruppe, die die Papiere zur Auswertung bereitgestellt hat, wurde in einen jahrelangen Rechtsstreit über angeblich verletzte Urheberrechte verwickelt. Für vier Jahre und neun Monate verschwanden die Papiere aus der Öffentlichkeit, bis der Rechtsstreit, der bis vor den europäischen Gerichtshof führte, klar zu Gunsten der Pressefreiheit ausging.

Daniel Lücking
Daniel LückingFoto: nd

Daniel Lücking war zwischen 2005 und 2008 mehrfach als Offizier in Afghanistan.

Brüskiert sollte sich auch das Parlament fühlen, das den Rechtsstreit laufen ließ – selbstverständlich im Sinne der Gewaltenteilung –, statt den offenkundigen Missbrauch rechtlicher Mittel und die damit einhergehende Steuerverschwendung zu skandalisieren. Offen benannt wird, dass es für Norwegen – und naheliegend auch für viele andere beteiligte Staaten – in Afghanistan weniger um die Zielerreichung gegangen sei als darum, den USA als Bündnispartner zu gefallen. So wurde das Ende des Kriegseinsatzes nicht als Sieg gefeiert. Es war lediglich das Resultat eines Kampfes, den die USA überdrüssig geworden waren.

Dass in diesem Jahr nun unumwunden eingestanden wird, auf welchen Ebenen das Scheitern in Afghanistan stattgefunden hat, war überfällig. Unerträglich ist es aber, dass auf Korruption, die schon 2006 offenkundig als Problem in Afghanistan erkennbar war, nicht reagiert wurde. Immerhin wird dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit eine Strategieänderungen im Jahr 2017 bescheinigt. Im Auswärtigen Amt war indes zwischen 2013 und 2020 weder eine Anpassung oder ein kritischer Umgang ersichtlich.

Zu hohe Erwartungen in die Arbeit der Enquete sollte indes niemand haben. Trotz des eingestandenen Scheiterns in Sachen Geschlechtergleichstellung, Stabilisierung und Demokratiebildung lässt die Bundesregierung weiterhin keine afghanischen Menschen über das grüngefärbte Bundesaufnahmeprogramm einreisen. Auf die Leugnung der Kriegsrealität folgt die Leugnung der Not.

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