»Titanic«: Ein Eisberg namens Wirklichkeit

Das Satiremagazin »Titanic« stand vor dem Untergang – wie konnte es dazu kommen?

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 5 Min.
Rot-Grün-Politiker als Wiedergänger Hitlers? Kein Tabu für »Titanic«. Diese Ausgabe entstand noch unter der Chefredaktion von Oliver Maria Schmitt.
Rot-Grün-Politiker als Wiedergänger Hitlers? Kein Tabu für »Titanic«. Diese Ausgabe entstand noch unter der Chefredaktion von Oliver Maria Schmitt.

Martin Sonneborn hat seinen Karl Marx gelesen. Dessen Diktum »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern« sollte von 2000 bis 2005 zu seinem Leitspruch als »Titanic«-Chefredakteur werden. Warum die Welt persiflieren, wenn man sie auch manipulieren konnte!

Genau das tat er mit unübersehbarem Vergnügen. Sein gespielter Bierernst wurde schon bald zu seinem Markenzeichen. Auf dem Höhepunkt der Kohl’schen Spendenaffäre informierte Sonneborn als »Bankdirektor Weber« die CDU, man habe in Luzern millionenschwere Schwarzgeldkonten gefunden, über die man vor Ort reden müsse. Prompt hatten deren Geschäftsführer Willi Hausmann und Eckart von Klaeden nichts Besseres zu tun, als flugs in die Schweiz zu reisen. Der öffentliche Spott war beiden danach sicher. Wirkungsvoller kann man lobbyistische Politiker nicht bloßstellen.

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Für Schlagzeilen sorgte auch Sonneborns Reaktion auf die antisemitischen Ausfälle des stellvertretenden FDP-Vorsitzenden Jürgen Möllemann im Jahr 2002. Auf einem Wahlkampfstand in Eisenach hetzten er und seine »Titanic«-Redakteure als vermeintliche FDP-Mitglieder mit Plakaten wie »Gib endlich Friedman! Judenfrei und Spaß dabei!« und »Deutsche wehrt Euch! Wählt FDP!« Das begeisterte nicht nur den dortigen FDP-Kreisvorsitzenden. Der Skandal ließ nicht lang auf sich warten.

Ein Jahr später musste die bayerische SPD dran glauben. Angesichts katastrophaler Umfragewerte warb Sonneborns diesmal rot verkleidete Truppe mit den Slogans »Wir geben auf« und »Mit Anstand verlieren« – was die SPD mit 19,6 Prozent dann auch tat.

Sein Meisterstück aber gelang ihm mit der Vergabe der Fußball-WM 2006. Da schickte Sonneborn am Vorabend der Abstimmung ein Fax an mehrere Fifa-Delegierte. Darin köderte er diese mit »einem feinen Korb voller Spezialitäten aus dem Schwarzwald, darunter richtig gute Würste, Schinken und – halten Sie sich fest – eine wunderbare Kuckucksuhr«. Das Wort Kuckucksuhr hatte Sonneborn im Englischen wie KuKluxKlan geschrieben, nämlich »KuKuClock!« Der 79-jährige neuseeländische Abgesandte Charles Dempsey fiel dennoch drauf rein. Statt, wie ihm von seinem Verband aufgetragen worden war, für Südafrika zu stimmen, enthielt er sich der Stimme, wodurch Deutschland den Zuschlag erhielt. Später erklärte Dempsey, das letzte Fax habe ihm das Genick gebrochen. Es war Sonneborns Fax gewesen. Sogar Teamchef Rudi Völler bedankte sich bei der »Titanic«: »Die Jungs haben die WM nach Deutschland gebracht!« Mehr können Satiriker im Leben nicht erreichen.

Aber Sonneborn wollte mehr. Das »Titanic«-Motto »Die endgültige Teilung Deutschlands – das ist unser Auftrag« wurde auch die Devise seiner 2004 gegründeten Partei »Die PARTEI« (Kurzform für »Partei für Arbeit, Rechtsstaat, Tierschutz, Elitenförderung und basisdemokratische Initiative«). Da forderte man den Wiederaufbau der Mauer und propagierte diesen als konjunkturfördernde Maßnahme. Nicht jeder sah darin Ironie.

Was als Spaßprojekt begonnen hatte, sollte 2014 ernst werden: Sonneborn gelang der Einzug ins Europäische Parlament. Von dort berichtet er seitdem regelmäßig über seine Erfahrungen als Abgeordneter. Seine Beschreibungen lesen sich wie Satire, sind aber keine. Würde man das Parlament als »unfähigen, faulen und korrupten Sauhaufen ausgemusterter Politiker« bezeichnen, käme dies der Wahrheit ziemlich nahe.

Genau darin liegt das Problem der heutigen »Titanic«. Natürlich sind die Druckkosten durch die unterbrochenen Lieferketten während der Corona-Pandemie sowie die Gasverknappung infolge des russisch-ukrainischen Krieges durch die Decke gegangen. Auch ist es keine neue Erkenntnis, dass der Zeitschriftenmarkt seit den 00er Jahren kriselt. Andererseits zeigt der Erfolg sogenannter Special-Interest-Magazine wie »Landlust«, »Playboy«, »11 Freunde« und »Sports Illustrated«, dass sich in der Nische noch Geld verdienen lässt.

Titanic gelang dies nicht. Jeden Monat machte man 20 000 Euro Miese. Die Abonnentenzahlen fielen. Die Druckauflage rutschte auf 15 000 Exemplare. Das überrascht zunächst. Zwar verzichtet man lange schon auf öffentlichkeitswirksame Aktionen Marke »TITANIC holt WM nach Deutschland«, doch die Qualität der Beiträge stimmt. Auf den satirischen Nachwuchs ist Verlass. Das Problem ist die Wirklichkeit. Wie will man Zustände verbal zuspitzen, wenn diese bereits als Gipfel der Absurdität erscheinen?

Ein Jürgen Möllemann musste in den 90ern als Wirtschaftsminister zurücktreten, weil er auf Ministeriums-Briefpapier für eine Einkaufswagen-Pfandmünze seines Schwippschwagers geworben hatte – der Plastikchip kostete wenige Pfennige. Einem Finanzminister Olaf Scholz hingegen konnte selbst der Cum-Ex-Steuerbetrug, durch den der deutsche Staat rund 32 Milliarden Euro verlor, nichts anhaben. Auch Verkehrsminister Andreas Scheuer durfte im Amt bleiben, obwohl er in Sachen Pkw-Maut zweifelhafte Verträge abgeschlossen hatte, dank derer die Bundesrepublik für keinerlei Leistungen 243 Millionen Euro zahlen muss.

Es ist zum Verzweifeln. Kein Wunder, dass selbst einem Martin Sonneborn der Humor vergangen ist. Was er in Brüssel erlebt, lässt sich satirisch nicht steigern, sondern nur noch realitätsgetreu wiedergeben. Es braucht auch keinen fingierten »Judenfrei und Spass dabei!«-Wahlkampfstand mehr, um den Antisemitismus der Deutschen zu entlarven – das schafft ein Hubert Aiwanger heute im Alleingang. Die Wirklichkeit übertrifft die Fantasie.

Für ein Satiremagazin kann eine solche Situation tödlich enden. Man benötigte dringend 5000 zusätzliche Abos. Denn: »Titanic ist pleite wie noch nie.« Was die Bordkapelle – Pardon! – die Redaktion nicht erschütterte. Sie witzelte unbeirrt weiter. »Seltene Erden für die TITANIC-Büropflanzen« und »Massagesessel für die Chefredaktion« seien mit schuld an der finanziellen Misere. Der Humor kam an; das Wunder geschah. Binnen zwei Wochen wurden 6000 neue Abos abgeschlossen, 500 T-Shirts à 90 Euro verkauft und rund 35 000 Euro an Spenden eingenommen. Aber so war es schon bei der Original-Titanic: Manche haben am Ende doch überlebt.

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