Jede Schmerztherapie birgt Risiken

Kassenreport: Ungeeignete Kombinationen von Medikamenten gerade bei älteren Patienten

Schmerz ist aus medizinischer Sicht beschrieben als ein »unangenehmes sensorisches und emotionales Erlebnis, verbunden mit aktueller oder potenzieller Gewebeschädigung«. Für die Diagnose wichtig ist nicht nur der Körperteil, an dem dieses Erlebnis wahrgenommen wird, sondern auch Stärke und Art der Schmerzempfindung sind von Bedeutung. Niemand will die Tortur nur detailreich beschreiben. Spätestens, wenn Schmerzen stark und chronisch sind, wird Abhilfe gesucht – meist in Form von Medikamenten.

Das Symptom ist mit vielen Krankheiten verbunden, und so wundert es nicht, dass, aus einer Befragung hochgerechnet, jedes Jahr knapp 18 Millionen Männer und rund 23 Millionen Frauen hierzulande an Schmerzen leiden. Im Jahr 2021 erhielten zum Beispiel 17,1 Millionen gesetzlich Versicherte eine medikamentöse Schmerztherapie. Ob das immer die richtigen Medikamente sind, ist die große Frage, die sich unter anderem auch der Vorstandsvorsitzende der Barmer, Christoph Straub, stellte, als er am Mittwoch in Berlin den neuen Arzneimittelreport seiner Krankenkasse vorstellte.

Der Report untersucht als Schwerpunkt die medikamentöse Schmerztherapie von ambulant behandelten Barmer-Versicherten ab 18 Jahren ohne Tumorerkrankung. Die Ergebnisse zeigen, dass viele Patienten für sie ungeeignete Schmerzmittel erhalten. Vermeintlich harmlose Medikamente könnten bei bestimmten Vorerkrankungen schwere Folgen haben, erläutert Straub eingangs, etwa Klinikaufenthalte oder eine höhere Sterblichkeit.

Ein Negativbeispiel: Über eine halbe Million Barmer-Versicherte erhielten trotz Herzinsuffizienz, also einem schwachen Herzen, nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) verschrieben. Zu der Gruppe gehören auch Diclofenac und Ibuprofen, beide gut bekannt und sogar rezeptfrei erhältlich. Das Problem: Selbst bei nur kurzfristiger Einnahme kann sich die Herzleistung deutlich verschlechtern. Ebenfalls nicht eingesetzt werden sollten NSAR bei eingeschränkter Nierenfunktion, weil sie zu plötzliche Organversagen können. Dennoch geschieht das noch häufig: Laut Arzneimittelreport liegt der Anteil der Patienten mit Niereninsuffizienz und NSAR-Einnahme bei den über 80-Jährigen 35 mal so hoch wie bei den unter 65-Jährigen. Zusätzlich problematisch ist in derartigen Fällen, wenn Patienten selbst weitere Schmerzmittel aus dem Apothekenfreiverkauf einnehmen, davon ihren Ärzten aber nichts berichten.

Eine der Ursachen von ungeeigneten bis riskanten Verschreibungen besteht darin, dass in der Regel mehrere Mediziner den gleichen Patienten parallel behandeln. Im Arzneimittelreport wurden mehr als 450 000 verschiedene, auch tatsächlich verordnete Kombinationen von je zwei Wirkstoffen gefunden. Diese mögliche Vielfalt kann kein Arzt mehr überschauen.

Hier müsse digitale Hilfe her, meint auch Barmer-Vorstand Straub. Die großen Vorhaben im Gesundheitswesen in diesem Bereich, wie das elektronische Rezept oder eine ebensolche Patientenakte (ePA), wären dafür eine Grundlage. Die Krankenkasse selbst hat versucht, eine praxistaugliche Lösung für solche Medikamentierungsprobleme zu finden, und das Adam-Projekt entwickelt und durchgeführt. Finanziert wurde es aus dem Innovationsfonds für das Gesundheitswesen.

Insbesondere soll es die Ärzte bei Polypharmazie unterstützen, die vorliegt, wenn gleichzeitig und dauerhaft mindestens fünf verschiedene Arzneimittel eingenommen werden, meist in der Folge von mehreren chronischen Erkrankungen, was vor allem bei Älteren immer häufiger auftritt. Das digital unterstützte Medikamentenmanagement könnte, nach den Adam-Erfahrungen, bis zu 70 000 Menschen jährlich das Leben retten. Zurzeit ist die Krankenkasse in Gesprächen darüber, wie das Projekt in die künftige ePA für alle gesetzlich Versicherten integriert werden kann.

Ein weiteres Thema bei der Schmerzmitteltherapie ist die sachgerechte Verordnung von Opioiden. Diese sehr starken Mittel wollen manche Patienten von vornherein aus Furcht vor Abhängigkeit für sich selbst ausschließen. Andere hoffen darauf als letzte Lösung für dauerhaften, starken Schmerz, der das Leben unerträglich macht.

Laut dem Report kamen Opioide 2021 bei 5,7 Prozent der Versicherten ohne Tumordiagnose zum Einsatz, was 2,7 Millionen Patienten entspricht. Laut Behandlungsleitlinien gehört zu jeder Opioid-Verordnung auch ein Rezept für ein Abführmittel, damit es nicht zum Darmverschluss kommt. Die für den Report untersuchten Daten zeigen aber, dass pro 100 000 Patienten in der Opioid-Therapie jährlich je nach Altersgruppe und Geschlecht 300 bis 870 stationäre Aufnahmen wegen Darmverschluss nötig waren. Diese unnötigen Fälle haben ihre Ursache darin, dass bei drei von zehn Patienten mit einer Opioid-Therapie kein Abführmittel verordnet wurde.

Die Opioide, vor allem als Morphinvarianten bekannt, sollten zudem nicht mit Beruhigungsmitteln zusammen verordnet werden. Das war jedoch laut Barmer bei rund jedem zehnten Versicherten mit einer solchen Therapie der Fall.

Schon die wenigen Beispiele lassen ahnen, dass Schmerztherapien komplexe Entscheidungen erfordern. Daniel Grandt, Chefarzt am Klinikum Saarbrücken und Studienautor für den vorgestellten Report, zieht folgendes Fazit: »Eine risikofreie medikamentöse Schmerztherapie gibt es nicht.«

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