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Türkei: Verlorenes Land

Can Dündar über die Türkei unter Erdoğan – eine mitreißende und schmerzhafte Geschichte

  • Stefan Berkholz
  • Lesedauer: 7 Min.

Im Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« hatte der türkische Journalist Can Dündar im Frühjahr noch seine Hoffnung auf einen Systemwechsel in der Türkei ausgedrückt. Erdoğan sei fällig, glaubte er. Seit 2011 lebt Dündar im Berliner Exil. Sein neues Buch, »Die rissige Brücke über den Bosporus« beginnt der Journalist mit der Wahlnacht vom 28. Mai.

»Wir glichen Angeklagten, die vor Gericht auf ihr Urteil warteten«, beschreibt der Autor die Szenerie in einer geräumigen Charlottenburger Wohnung, »die Skeptiker waren in der Mehrheit.« Und als die Zahlen immer mehr für Erdoğan sprachen, setzten »fünf Phasen der Trauer« ein: zuerst das Leugnen, dann der Zorn, schließlich das Fachsimpeln, die Depression und endlich die Akzeptanz. Als Dündar anschließend die Siegesfeiern der Nationalisten sieht, auch in Berlin mit wilden Hupkonzerten und Flaggendemonstration, da erinnern ihn diese Wut, dieser Hass und diese aufgeputschten gewalttätigen Emotionen »an die finstersten Zeiten des Despotismus … Es war, als hätten wir keine Wahl verloren, sondern ein Land.«

Zum 100. Jahrestag der Gründung der türkischen Republik Ende Oktober hat Dündar einen sehr persönlichen Überblick über die Geschichte verfasst, selbst betroffen, aber ausgewogen, zweifelnd und nüchtern, bitter zugleich, resigniert und am Ende schließlich doch noch immer »verhalten optimistisch«, wie er in der »Einführung« schreibt. Mauern seien schließlich gefallen (wie in Berlin), Potentaten gestürzt worden (wie im Irak oder in Libyen), nichts währet ewiglich, Leben und eben auch die Politik unterliege stetem Wandel.

Der Untertitel des Buches lautet »Ein Jahrhundert Türkische Republik und der Westen«. Darauf richtet Dündar sein Hauptaugenmerk: auf das Versagen des Westens und auf das schmutzige Geschacher in der Weltpolitik. Erst durch diese fahrlässige und kurzsichtige Politik des Westens konnten sich Despotismus und Autokratie in der Türkei entwickeln und ausbreiten. Der Westen als Handlanger Erdoğans, eine Bankrotterklärung freier Gesellschaften. Eine Warnung auch bezogen auf die deutschen Verhältnisse, solange AfD und Freie Wähler weiterhin gestärkt werden, weil Demokraten zu nachlässig, zu sorglos und zu befangen in der sogenannten Realpolitik sind.

Jahrzehntelang spielten die USA eine entscheidende Rolle, auch in der Türkei. Nach dem Krieg wurde das Land Teil des Marshallplans, weil es »Agrarkammer und Rohstofflager Europas« wichtig war. Doch das US-Geld zerstörte gesellschaftliche Strukturen in der Türkei.

Das antigriechische Pogrom vom Herbst 1955 sei ursächlich durch die Kapitalströme aus den USA erzeugt worden, urteilt Dündar. Die Nacht vom 6. auf den 7. September bezeichnet der Journalist als »eine der schändlichsten Nächte der türkischen Geschichte«. Istanbul habe einem Schlachtfeld geglichen. 15 Menschen starben, 500 wurden verwundet, »die jahrhundertealte Tradition des Zusammenlebens« vernichtet. Mehr als 60 000 Griechen flohen. Anschließend »begann die Herrschaft der Provinz«. Und Erdoğan setzte sich später an die Spitze.

Auch in der Türkei habe es eine 68er-Bewegung gegeben, schreibt Dündar. Doch mithilfe der USA wurde diese Freiheitsbewegung unterbunden. Finanzhilfen blieben aus, demokratische Staatsführer der Türkei wurden gestürzt, und der Militärputsch vom September 1980 wurde in den USA »erleichtert« aufgenommen, schreibt Dündar. So konnte das neoliberale Wirtschaftsprogramm umgesetzt werden.

Dündar streift auch das Wirken der CIA im Untergrund. Die überraschende Verhaftung (1998) von Kurdenchef Abdullah Öcalan, »Staatsfeind Nummer eins der Türkei«, bezeichnet der Journalist als »ein ›Geschenk‹ der CIA an die Türkei«. Und Angela Merkel als Bundeskanzlerin habe in der Flüchtlingsfrage ein bitteres Erbe hinterlassen. Die Lösung der Flüchtlingsfrage außerhalb der Grenzen Deutschlands war ihr wichtig, die Abschaffung der türkischen Demokratie durch Erdoğan fand weniger Beachtung.

Dündar geht ebenso der Frage nach, wer ein Interesse daran habe, die kurdische Frage nicht friedlich zu lösen. Na, wer wohl? Populisten, Potentaten und Autokraten benötigen Angst und Angstmache, um ihre Macht zu stabilisieren. Sie benötigen Feinde, um Gewalt zu praktizieren. Die Kurdenfrage war sogar schon einmal vor der Lösung, 2015 sollte Frieden geschaffen werden. Erdoğan selbst hatte diesen Prozess eingeleitet – und dann über Nacht abgebrochen. Denn als Potentat braucht er die Gewalt für seine Macht, um als starker Mann aufzutreten. Repressionen, Terror, Angst und Angstmache – das sind die Grundlagen für Autokraten, ein Lehrbeispiel!

Angst und Angstmache sind auch in Deutschland derzeit sehr angesagt, vorrangige Mittel von Populisten in der AfD, unter den Freien Wählern, in Söders CSU, in Merz’ CDU. So werden Demokratien aufgegeben, wenn die Demokraten keinen Widerstand leisten, so werden Autokratien installiert und stabilisiert.

Dündar geht auf die »Konterguerilla« in der Türkei ein, den Staat im Staate, die »Zusammenarbeit zwischen Mafia, Polizei und Politik«. Er liefert beklemmende Einsichten in einen weitgehend gleichgeschalteten Machtapparat. Justiz und Medien sind auf Linie gebracht, eine politische Opposition hat es schwer, sich bemerkbar zu machen. Und findet sich wirklich einmal so eine überparteiliche Oppositionsbewegung auf den Straßen zusammen, wie während der Gezi-Aufstände vom Sommer 2013, dann wird sie niederkartätscht.

Dündar analysiert die Spaltung der Türkei zwischen Europa und Asien, die sich aus der Kurdenfrage und dem Religionsstreit zusammensetze, der Laizismus-Debatte, also der Forderung, Kirche und Staat radikal voneinander zu trennen. Hinzu kommt der fanatische, blutige Nationalismus. Politische Morde aus »nationalen Gefühlen« werden milde betrachtet und können mitunter straffrei ausgehen.

»Bei der Lektüre des Buches haben Sie bemerkt«, schreibt Dündar gegen Ende, »dass es im Verlauf der Geschichte der Türkei etwa alle zehn Jahre eine Zäsur gab. Ein Gezeitenszenario, bei dem Militärinterventionen, Wahlen, Regierungen im Wechsel von zehn Jahren kamen und gingen.« In der Chronologie im Anhang finden sich die Daten im Überblick: Mai 1960 erster Putsch der türkischen Armee gegen die Regierung; 1969 »Blutsonntag«; 1970 Arbeiterproteste, Kriegsrecht; 1971 zwingt die Militärführung Ministerpräsident Demirel zum Rücktritt; September 1980 wieder ein Militärputsch; 1989 wird Turgut Özal zum neuen Staatspräsidenten gewählt; 2003 wird Erdoğan Ministerpräsident; Juli 2016 ein Putschversuch. »2013 war Erdoğans Macht auf dem Gipfel«, urteilt Dündar, »aufgrund einiger Geschehnisse in jenem Jahr begann aber auch der Abstieg. Mit 34 Prozent war die AKP einst aufgebrochen, auf der Hälfte des Weges erreichte sie 50 Prozent. Bei den jüngsten Wahlen kehrte sie mit 35 Prozent an den Ausgangspunkt zurück … Auch für Erdoğan, der zum letzten Mal gewählt wurde, beginnt die Ära des Niedergangs.«

Nach der Lektüre des Buches fragt man sich, wie der Gründungstag der Türkischen Republik mit Atatürks westlich orientierter Politik in der heutigen rückwärtsgewandten Türkei eigentlich gefeiert werden kann. Voraussichtlich mit weiteren staatlich verordneten Lügen im Nationalrausch.

Dündar hat ein sehr lesbares, griffiges, auch autobiografisch gefärbtes Buch verfasst, es ist eine mitreißende Geschichtsschreibung. Durch verschiedene Andeutungen wird klar, welche Bedeutung Dündar als Journalist in der Türkei hatte, mit wem er in seiner Arbeit hatte sprechen können, welche Recherchen, Dokumentationen und Bücher er hatte machen können. Es ist ein Glücksfall, dass der Galiani-Verlag Dündar für dieses faszinierende, klar gegliederte und ansprechende Buch gewinnen konnte. Eine politische Darstellung, an der künftig keiner vorbei kann. Lakonisch, sachlich und dennoch parteiisch, politisch eben. Eines der wichtigsten Bücher zur Geschichte und Politik der Türkei zum 100. Jahrestag der Gründung durch Atatürk. Zudem sind Dündars beklemmende Analysen als Warnung zu lesen, wie rasch auch in Deutschland die Zustände kippen könnten, wenn kein Mittel gegen Hasspropaganda, Angstmache und Lügen gefunden wird.

Can Dündar: Die rissige Brücke über den Bosporus. Ein Jahrhundert Türkische Republik und der Westen. A. d. Türk. v. Sabine Adatepe. Galiani, 240 S., geb., 23 €.

Film- und Buchpremiere mit Can Dündar und Gästen, unter anderem der Schriftstellerin Asli Erdoğan, am 15. Oktober, 16 Uhr, im Maxim-Gorki-Theater in Berlin.

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