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Doku »Deutschlandlieder«: Geborgenheit und Kampfkraft

Eine Doku widmet sich einem Musikstil der besonderen Art: Songs, mit denen Gastarbeiter nebst Nachfahren heimisch wurden

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.
»Almanya Türküleri«, die deutschen Volkslieder, stehen für Geborgenheit, aber auch für Kampfkraft.
»Almanya Türküleri«, die deutschen Volkslieder, stehen für Geborgenheit, aber auch für Kampfkraft.

Türkische Gastarbeiter – allein schon dieses Wort – genießen bis heute nicht den besten Ruf unter Gastarbeiter-Arbeitgebern. Fast 70 Jahre, nachdem das aufstrebende Deutschland Südeuropäer an Wirtschaftswunderwerkbänke anwarb, gelten die Nachkommen italienischer, griechischer und portugiesischer Immigranten schon wegen ihrer geselligen Küche als einigermaßen tolerabel; aber Kindeskindern anatolischer Einwanderer dagegen wird bis heute – Döner hin, Gündoğan her – die Anerkennung ihrer herausragenden Integration verweigert.

Vielleicht hilft ja die Musik. Das dachte sich zumindest der – allein schon dieses Wort – deutschtürkische Universalkünstler Nedim Hazar und hat ein beispielloses Projekt auf die Beine gestellt: Almanya Türküleri. So heißen die Lieder, wie sie Exilanten hierzulande singen, um ihre Heimat im Herzen zu behalten und fernab davon heimischer zu werden. Gut 40 Jahre, nachdem Hazar der türkischen Militärjunta Richtung Köln entkommen konnte, bringt er deshalb »Deutschlandlieder« auf die Bühne, wie 3sat seine Dokumentation übersetzt.

Musikstücke, so erklärt es der Vater des Rappers Eko Fresh zu Beginn einer neunzig-minütigen Reise in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft seiner unfreiwilligen, aber angenommenen Entwurzelung, »die von Türken, Kurden, Migrant*innen komponiert, gesungen, performt wurden«. Dabei erzählen sie laut Hazar überwiegend »Liebesgeschichten«. Aber die »sind tänzerisch und sie sind kämpferisch«. Also das exakte Gegenteil deutscher Volkslieder, die überwiegend den Liebreiz ihrer Herkunft besingen. Kein Wunder.

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Unter Anleitung des Musikpädagogen Ruddi Sodemann begibt sich Hazar schließlich nicht nur auf die Suche nach dem Sound seiner Jugend. Ihre Dokumentation ist ein Streifzug durch die Historie türkischer Selbstermächtigung in abweisender Umgebung. Mindestens ebenso sehr aber ist er ein Angebot, Kultur lieber mit- als gegeneinander zu denken. Deshalb kommt hier nicht nur eine unvergleichliche Auswahl Kreativer mit Migrationsvorder- und -hintergrund zusammen. Sie erzählt auch ein Lehrstück nachkriegsdeutscher Zeitgeschichte.

Etwa, wenn der hochbetagte Ford-Malocher Metin Tüköz ins Orchester kommt, um noch mal eines seiner bilingualen Lieder vorzutragen, die ihn Ende der 60er Jahre zur »Stimme der türkischen Arbeiter in Deutschland« gemacht hatten. Oder, wenn die Jazzsängerin Güzel Deniz ebenso ergriffen wie standhaft davon erzählt, wie sie 1971 als 18-Jährige mutterseelenallein in ein Land voller Vorurteile gekommen seien.

Und dann natürlich, wenn sich der grüne Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir heiter als »Produkt des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens« bezeichnet, kurz darauf aber versteinert, als er wie andere von Ablehnung, Hass, gar Todesgefahren berichtet. Von Solingen, Mölln und Hoyerswerda. Von Schwelbänden rassistischer Gewalt also, die in den Baseballschlägerjahren der Neunziger tödlich wurden und in den NSU-Jahren der Nullerjahre terroristisch.

In dieser Atmosphäre aus Anpassungsdruck und Angst sorgten »Almanya Türküleri« demnach für Geborgenheit, Wärme und Halt, aber mehr noch für Durchhaltevermögen, Courage und Kampfkraft. So spiegelt dieses klingende Porträt der größten Gruppe zuwanderungsgeprägter Individuen ein kollektives Gefühl wider. Es drückt dieses paradoxe System aus, mittendrin zu sein und doch nur dabei, über das sich Papa und Hazar und Sohn Eko regelmäßig im Zwiegespräch unterhalten.

Und alles fortwährend vertont in einer Mischung aus Trotz, Ironie, Liebe, Wut, Melancholie und Sehnsucht, die praktisch jedes Deutschlandlied durchzieht wie Oud, Davul, Mey oder Kudum – das orientalische Instrumentarium türkisch-kurdisch-alawitischer Volksmusik mit Einsprengseln von okzidentalem Hip-Hop, deren Wirkung man sich im ausverkauften Konzert, das später sogar den Weg nach Istanbul findet, kaum entziehen kann. Vielleicht hassen alte und neue Nazis alles Türkische abseits von Döner ja deshalb so, weil diese Musik organisch ergreifend ist, während die xenophobe Zorn-Armee bestenfalls den Überwältigungspop von Helene Fischer hat und schlimmstenfalls den Rechtsrock von Störkraft.

Der Rest hingegen, die Offenherzigen und Empathiebegabten, Aufgeschlossenen und Menschenfreundlichen haben ab sofort ein hinreißendes Live-Erlebnis nebst Reise dorthin als Beleg einer emotionalen Kraft, die Brücken baut, Gräben füllt, Grenzen sprengt – gut zu hören, sehen, spüren im Finale einer Dokumentation, mit der 3Sat nur dem Anlass nach den 100. Jahrestag der türkischen Staatsgründung feiert. Viel mehr zelebriert »Deutschlandlieder« das Leben. Miteinander. Nicht gegeneinander.

Verfügbar in der 3Sat-Mediathek

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