Muss Deutschland wirklich »kriegstüchtig« werden?

Boris Pistorius fordert, Deutschland müsse sich für den Kriegsfall besser rüsten

Nach der großen Aufregung am Wochenende legte Boris Pistoris erneut nach: Am Dienstagmorgen warnte der SPD-Verteidigungsminister ein zweites Mal vor einer Kriegsgefahr in Europa. Schon am Sonntag sorgte seine Forderung, Deutschland müsse wieder »kriegstüchtig werden« für laute Empörung in den deutschen Medien.

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine stelle das Land vor eine neue Realität, von der es sich 30 Jahre lang entwöhnt habe, sagte der SPD-Politiker am Dienstag im Deutschlandfunk. »Nämlich, dass es eine Kriegsgefahr in Europa gibt durch einen Aggressor. Darauf sind wir mental nicht eingestellt.«

Deutschland müsse sich auf eine solche Gefahr einstellen, um abwehrbereit zu sein. »Wir müssen in der Lage sein, Krieg, einen Abwehrkrieg, einen Verteidigungskrieg führen zu können, damit wir es am Ende nicht müssen«, sagte Pistorius. Man könne sich nicht auf eine Gefahr einstellen, die man nicht wahrnehme und die man nicht annehme. Es gehe in den nächsten Jahren darum, das Sondervermögen zu nutzen und die Strukturen der Bundeswehr neu aufzustellen. Es brauche aber Zeit, Versäumnisse aus 30 Jahren umzudrehen, so der SPD-Politiker.

Pistorius hatte sich bereits am Sonntag im ZDF entsprechend geäußert. Dort warnte der Minister auch schon vor Kriegsgefahren in Europa und drängte auf Tempo bei der Modernisierung der Bundeswehr. »Wir müssen uns wieder an den Gedanken gewöhnen, dass die Gefahr eines Krieges in Europa drohen könnte. Und das heißt: Wir müssen kriegstüchtig werden. Wir müssen wehrhaft sein. Und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen«, sagte er am Sonntagabend in der Sendung »Berlin direkt«.

nd.Kompakt – unser täglicher Newsletter

Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.

Vorwürfe, die Modernisierung der Bundeswehr gehe zu langsam, ließ Pistorius nicht gelten. »Viel mehr Tempo geht gar nicht«, sagte er. Zwei Drittel des 100 Milliarden Euro umfassenden Sondervermögens seien bereits vertraglich gebunden. Produktion und Lieferungen bräuchten aber Zeit, räumte der Minister ein. Zugleich sei man dabei, Strukturen bei der Bundeswehr zu verändern.

Mit Hinweis auf die vergangenen 30 Jahre ohne Blockkonfrontation in Europa sagte der Minister: »Das alles lässt sich, was in 30 Jahren verbockt worden ist, sorry, wenn ich das so sage, und runtergewirtschaftet worden ist, nicht in 19 Monaten wieder einholen.« In drei, vier oder fünf Jahren werde die Bundeswehr aber völlig anders aussehen. Zugleich betonte Pistorius, bereits heute sei die Bundeswehr eine der stärksten Streitkräfte innerhalb der Nato in Europa.

Die Empörung in Medien und Politik war vorprogrammiert. Janine Wissler, Ko-Chefin der Linkspartei, schrieb am Dienstag auf »X«, es müsse alles dafür getan werden, um Kriege zu verhindern, statt sich an den Gedanken eines Krieges in Europa zu »gewöhnen«. »Es läuft mir kalt den Rücken runter, wenn ein deutscher Verteidigungsminister davon spricht, dass Deutschland ›kriegstüchtig‹ werden müsse,« so Wissler.

Der CDU-Abgeordnete Norbert Röttgen kritisierte den SPDler aus einer anderen Richtung: Über die Aussage von Pistorius, es könne Krieg in Europa geben, könne man nur den Kopf schütteln. Pistorius trage Mitverantwortung dafür, dass Deutschland in diesem Krieg der Ukraine nicht liefere, was sie brauche: »Taurus-Marschflugkörper.«

Auch zum Nahost-Krieg zwischen Israel und der islamistischen Hamas im Gazastreifen äußerte sich Pistorius: »Hier geht es um das Selbstverteidigungs- und das Existenzrecht Israels. Und Deutschland gehört eindeutig zu denen, die uneingeschränkt Ja sagen zu diesem Recht.« Zugleich wolle Deutschland seinen Einfluss geltend machen.

Muss sich Deutschland tatsächlich kriegstüchtig machen? Die Ko-Vorsitzende der Friedensorganisation IPPNW, Dr. Angelika Claußen, widerspricht Pistorius’ Annahme entschieden. »Das Gegenteil ist richtig: In diesen Zeiten fortwährender kriegerischer Eskalationen im Krieg zwischen Russland und der Ukraine, die sich auf das Nato-Bündnis stützt, im Nahen Osten, wo nach dem brutalen Überfall der Hamas mit 1200 Toten in Israel nun schon ca. 9000 Menschen im Gazastreifen getötet wurden, brauchen wir Deeskalation.« Weder Hundertschaften von neuen Panzern und Kampfflugzeugen noch Tausende von Drohnen und Artilleriegeschossen könnten den Frieden in Europa sichern, so Claußen gegenüber »nd«.

»Ein Paradigmenwechsel hin zur Logik des Friedens würde konkret bedeuten, dass sich die Bundesregierung zusammen mit Frankreich energisch bei ihrem amerikanischen Bündnispartner für Gespräche einsetzt«, die zwischen den USA und Russland um eine Wiederaufnahme von Rüstungskontrolle und von vertrauensbildenden Maßnahmen geführt werden müssten.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal