Geschichte der unteren Klasse: Die übrigen Verdächtigen

Olivier David über das Erinnern an die eigene Geschichte

Woran erinnern, wenn die eigene Familiengeschichte nur schemenhaft in Erinnerung geblieben ist? Diese Frage stellt sich mir umso drängender, je mehr Lücken sich in den Lebenslauf meiner Vorfahren auftun. Und nicht nur da gibt es blinde Flecken, weiter als bis zur Großelterngeneration reicht das überlieferte Wissen nur bruchstückhaft zurück. Es mangelt an Fotoalben und an der Dokumentation, wer zu welcher Zeit, an welchem Ort gelebt hat.

In »Gesellschaft als Urteil« schreibt der Autor Didier Eribon über die Bedingungen des Erinnerns: »Meine Vorfahren dienten den Reichen und Mächtigen. Ihre Vergangenheit verliert sich im Dunkel der Zeiten, weit vor dem Mittelalter – in einer Welt allerdings, in der das Recht auf eine Geschichte, auf das jahrhundertelange ›zurückreichen‹ nicht existiert: in der Welt der Ausgebeuteten.« Als ich diese Worte zum ersten Mal gelesen habe, hat mich die Wahrheit dieser Sätze wie ein Donner getroffen. Obwohl Eribon sie geschrieben hatte, waren es meine Worte. Er gab mir Sprache für eine Form der Vereinzelung, die auch mit dem Umstand zu tun hat, sich von der eigenen Geschichte abgeschnitten zu fühlen.

Von mir gab es keine Videoaufnahmen, bis ich vierzehn war. Alles, woran ich mich erinnere, war provisorisch und bruchstückhaft. Da waren keine verkörperten Gewissheiten, auf die ich mich berufen konnte, wenn es drauf ankam. Da waren keine Erbstücke, Häuser, Klamotten oder Kulturtechniken, die mich an etwas anderes denken ließen als an die Gegenwart, in der es für mich drei Jahrzehnte nur zu verlieren gab.

Olivier David

Olivier David ist Autor und Journalist. 2022 erschien sein erstes Buch »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen reflektiert. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. David studiert in Hildesheim literarisches Schreiben. Für »nd« schreibt er in der 14-täglichen Kolumne »Klassentreffen« über die untere Klasse und ihre Gegner*innen. Alle Texte auf dasnd.de/klassentreffen.

Eribon hilft sich mit einem Trick aus demselben Dilemma der eigenen Geschichtslosigkeit heraus: »Deshalb brauche ich Geschichtsbücher, brauche ich die Literatur, um auf die Welt meiner Vorfahren zugreifen und erfahren zu können, woher ich komme.« So geht es auch mir. Doch vor ein paar Tagen habe ich ein Erlebnis gemacht, ein ganz praktisches, von dem ich immer noch zehre. Ein Erlebnis jenseits der Geschichtsbücher. Ende Oktober haben meine Mutter, meine Tante und ich an einem historischen Stadtteilrundgang teilgenommen. Der Stadtrundgang war kein gewöhnlicher Stadtrundgang, es war ein Stadtrundgang auf den Spuren des gescheiterten Hamburger Aufstandes.

Am 23. Oktober 1923 stürmten dreihundert Mitglieder*innen der KPD in Hamburg und Schleswig-Holstein insgesamt vierundzwanzig Polizeiwachen. Siebzehn Polizisten wurden von den Aufständischen erschossen. Im Verlauf des Versuchs starben insgesamt mehr als hundert Menschen. Großteils war der Aufstand schon am Abend des 23. durch Polizeikräfte niedergeschlagen worden, einzig in Schiffbek, einem Ortsteil Billstedts, am Rande Hamburgs, kämpfte man damals noch bis in den frühen Nachmittag des 24., bis der Aufstand auch dort niedergeschlagen wurde.

Schiffbek liegt nur ein paar hundert Meter entfernt, von dem Stadtteil, in dem meine Mutter und meine Tante Ende der 1950er Jahre aufgewachsen sind. Während des Spaziergangs kam ich mit einer älteren Frau ins Gespräch und sie erzählte, dass ihr Vater als Kommunist zwölf Jahre in KZs interniert war. Indem die Frau mir vom Schicksal ihres Vaters erzählte, wurde ich daran erinnert, dass ein Teil der kollektiven Geschichte der unteren Klasse immer auch ein Teil der Gegengeschichte ist. Ich dachte an meinen Großvater, den ich nie kennengelernt habe, der als politischer Gefangener einige Jahre in KZs verbrachte.

Während des Spaziergangs erzählte meine Tante, dass der Großvater ihrer Frau als Kämpfer am Hamburger Aufstand teilgenommen hatte und den beiden bei einem Spaziergang die Orte zeigte, an denen er gekämpft hatte. Dieser Gedanke, dass die eigene Familie und das Milieu, dem ich entstamme, schon seit Generationen Teil eines Kampfes ist, der sich gegen bestehende Verhältnisse richtete, hat mir mehr gegeben als jedes Geschichtsbuch.

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