Nahost: In Berlin demonstrieren Juden und Palästinenser gemeinsam

An diesem Samstag veranstalten jüdische und palästinensische Gruppen eine Demonstration gegen den Krieg

Angesichts des anhaltenden Bombenregens auf Gaza, bei dem bereits mehrere tausend Kinder getötet wurden, findet diesen Samstag um 14.00 Uhr eine Demonstration am Alexanderplatz statt. In einer Zeit des chauvinistischen Hasses ist diese Aktion in einem internationalistischen Geist, organisiert von »Jewish Voice«, »Palestine Speaks« und Linken zahlreicher Nationalitäten.

Als ich meine letzte Kolumne vor zwei Wochen veröffentlichte, war jede einzelne pro-palästinensische Aktion in Berlin verboten worden. Jetzt schikaniert die Polizei weiterhin Menschen auf den Straßen von Neukölln, aber zwei Demonstrationen wurden genehmigt: Am 21. Oktober marschierten 5.000 Menschen durch Kreuzberg und am vergangenen Sonntag waren es weit über 10.000.

Die bürgerlichen Medien veröffentlichten nur die oberflächlichsten Berichte und wiederholten die Aussagen der Polizei. Leichtgläubige Leser*innen könnten sich einen Mob von Hamas-Anhängern vorstellen, die »Tod den Juden« skandieren. Die besagten Leser*innen wären schockiert gewesen, eine so junge, linke, relativ queere und äußerst internationale Menge zu sehen. Englisch und Arabisch waren die Hauptsprachen, die ich hören konnte, und nur ein paar Brocken Deutsch – ich hörte sogar mehr Leute Spanisch als Deutsch sprechen. Viele Demonstrierende gaben sich als Juden und Jüdinnen zu erkennen und trugen handgefertigte Schilder, auf denen sie gegen Angriffe protestierten, die in ihrem Namen verübt wurden.

Kolumne »Red Flag«

»Red Flag« ist eine Kolumne über Berliner Politik von Nathaniel Flakin. Sie erschien von 2020 bis 2023 im Magazin »Exberliner« und fand ein neues Zuhause bei der Zeitung »nd« – als deren erster Inhalt, der auch auf Englisch zu finden ist. Nathaniel ist auch Autor des antikapitalistischen Reiseführers Revolutionary Berlin.

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In der palästinensischen Diaspora Berlins leben Zehntausende von Menschen mit vielfältigen und komplexen Ansichten, wie »nd« in diesem Dreifach-Profil zeigt. (Das ist übrigens der Grund, warum wir linke Medien brauchen: Kaum jemand lässt die Palästinenser*innen zu Wort kommen!)

Ein Teil des deutschen Establishments, von der AfD bis zur Partei Die Linke, unterstützt das »Recht Israels auf Selbstverteidigung«. Die Regierung, eine selbsternannte »Fortschrittskoalition«, stellt Waffen zur Verfügung, während sie sich den Forderungen nach einer Feuerpause widersetzt. Am 22. Oktober riefen alle Parteien zusammen mit den beiden Staatskirchen, Nichtregierungsorganisationen, Kapitalist*innen und Gewerkschaftsbürokrat*innen zu einer Kundgebung vor dem Brandenburger Tor auf. Es kamen nur etwa 10.000 Menschen. Während die AfD offiziell nicht dabei war, hielt der Botschafter Israels eine Rede, die die AfD gerne gehalten hätte. Auf der Kundgebung, bei der es angeblich um Menschenrechte und Demokratie ging, wurde unter anderem zu mehr Abschiebungen aufgerufen.

Viele Deutsche, vielleicht eine Mehrheit, sind nicht mit der Regierung einverstanden, wenn es um die Unterstützung von Kriegsverbrechen geht. Sie haben jedoch Angst, dass ihre Ablehnung des Krieges als Antisemitismus empfunden werden könnte. Ausländer*innen haben natürlich keine derartigen historischen Gewissensbisse. Der deutsche Staat verlangt, dass jeder Einwanderer die Verantwortung für die beispiellosen Verbrechen übernimmt, die von der herrschenden Klasse dieses Landes vor weniger als einem Jahrhundert begangen wurden. Dies ist eine zynische Forderung, wenn man bedenkt, dass die überwiegende Mehrheit der Nazi-Kapitalist*innen, Nazi-Bürokrat*innen und Nazi-Richter*innen nie aufgefordert wurde, Verantwortung zu übernehmen.

Die herrschende Klasse in Deutschland ist nach wie vor von Antisemitismus durchsetzt – man denke nur an den kürzlich wiedergewählten Hubert Aiwanger – und dennoch geben sie sich selbst einen Persilschein, indem sie den Antisemitismus zu einem »importierten Problem« erklären.

Schützt die Repression die Juden und Jüdinnen? In einem offenen Brief erklären Hunderte von jüdischen Intellektuellen, dass ihnen die »vorherrschende Atmosphäre von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit« Angst macht, und nicht ein Kind, das in der Sonnenallee ein Palästinensertuch trägt. Udi Raz, ein führendes Mitglied der »Jüdischen Stimme«, wurde von seinem Job im Jüdischen Museum entlassen, weil er Israel als Apartheidstaat bezeichnete (dieselbe Position wie Human Rights Watch). Andere kritische Juden und Jüdinnen wurden verhaftet oder von der Polizei angegriffen. Für die deutsche Regierung sind jüdische Stimmen nur dann schützenswert, wenn sie rechtslastig sind.

Während Hunderttausende Menschen in ganz Europa und den Vereinigten Staaten auf die Straße gehen, schweigen die deutschen Linken weitgehend. Wenn Ihnen die Ohren brennen, dann rufe ich Sie im Namen Ihrer nicht-deutschen Nachbarn dazu auf, sich an diesem Samstag Ihren eingewanderten Freund*innen anzuschließen. Das erinnert mich an einen Protest vor neun Jahren. Wie ich damals für »nd« berichtete, demonstrierten mehr als 100 israelische Linke durch Kreuzberg und forderten deutsche Linke auf, etwas zu tun – irgendetwas. »Guten Morgen, deutsche Linke«, skandierten sie, »euer Schweigen ist unser Tod«.

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