Forensic Architecture: »Beweise öffentlich präsentieren«

Stefanos Levidis über die kleinteilige Arbeit von »Forensic Architecture« und deren ungewohnte Blickwinkel auf Verbrechen

  • Interview: Friedrich Burschel
  • Lesedauer: 6 Min.
Der Architekt Stefanos Levidis ist seit 2016 Teil des Teams von Forensic Architecture in London, er lebt und arbeitet in Athen.
Der Architekt Stefanos Levidis ist seit 2016 Teil des Teams von Forensic Architecture in London, er lebt und arbeitet in Athen.

Es gibt eine ständig wachsende Fangemeinde, die Arbeit und den Ansatz von Forensic Architecture (FA) bewundert und feiert. Woher kommt FA und was ist die Philosophie dahinter?

Unser Direktor Eyal Weizman initiierte Forensic Architecture im Jahr 2010 mit einem Stipendium des Europäischen Forschungsrats (ERC). Das Team hat dann über Fall- und Ermittlungsarbeit seine spezifische Forschungskultur in einer Reihe von Seminaren an der Goldsmiths University in London entwickelt. Unsere Praxis ist eine Antwort auf die Entwicklung staatlicher Gewalt. Konflikte und Menschenrechtsverletzungen finden zunehmend in städtischen Räumen, zwischen Häusern und in zivilen Nachbarschaften statt. Die gebaute Umwelt ist oft gar nicht mehr nur der Ort, wo Konflikte ausgetragen werden. Im Gegenteil: Dieser umbaute Raum ist oft selbst das Ziel von Angriffen – und die eingesetzten Waffen entsprechend darauf ausgerichtet.

Was heißt das?

Städtischen Strukturen ist die Gewalt, die sich in ihnen entfaltet, eingeschrieben und wir Architekt*innen und Raumplaner*innen können die Verbrechen sichtbar machen, die dort verübt werden. FA beginnt also gewissermaßen als eine Art »Baupathologie«, wir lesen und analysieren die Spuren eines bestimmten gewaltsamen Ereignisses in seiner spezifischen Umgebung – ähnlich wie ein Archäologe die Ruinen oder ein Gerichtsmediziner eine Leiche »liest«.

Interview


Stefanos Levidis ist promovierter Architekt und seit 2016 Teil des Teams von Forensic Architecture (FA) in London. Er lebt und arbeitet in Athen, wo er die Arbeit von FA und Forensis zu Grenzgewalt und Migration koordiniert. Am 10. November wird er um 15 Uhr zusammen mit seiner Kollegin Christina Varvia im Grünen Salon der Berliner Volksbühne zur tödlichen Grenzgewalt an der griechischen EU-Außengrenze sprechen. Die Veranstaltung ist Teil der Reihe »Europa den Räten«, die vom 8. bis 10. November 2023 in der Volksbühne stattfindet.

Gibt es auch Aspekte der Stadtarchitektur, die eure Arbeit begünstigen?

Die Umgebungen, in denen wir leben, werden zunehmend überwacht und sind dicht mit Medien besetzt. Die weite Verbreitung von Smartphones hat dazu geführt, dass Menschenrechtsverletzungen noch nie so gründlich dokumentiert werden konnten. Solche Ereignisse können jedoch sehr komplex sein und es stellt eine Herausforderung dar, wirklich zu verstehen, was geschehen ist. Jenseits davon, dass wir die Spuren der Gewalt im Raum selbst untersuchen, nutzen wir den Raum gewissermaßen auch als Medium, um die Bilder der darin eingeschriebenen Ereignisse zu archivieren und in ihnen zu navigieren, um sie zu verstehen. Architektonische Analysen und Techniken digitalen Modellierens ermöglichen es uns, diese Komplexität zu entwirren und Informationen auf überzeugende, präzise und zugängliche Weise zu präsentieren – Qualitäten, die für die Ermittlung von Verantwortlichkeit entscheidend sind.

Wo kommt eure Expertise zum Einsatz?

Unsere Ergebnisse können in »traditionellen« Foren wie nationalen und internationalen Gerichtshöfen, parlamentarischen Untersuchungsausschüssen, Wahrheitskommissionen und Tribunalen präsentiert werden. Unsere Beweismittel werden auch häufig von Medien aufgegriffen oder im Kunst- und Kulturkontext präsentiert, wo wir bisweilen über prozessrechtliche Beschränkungen hinausgehen können. Wir versuchen, diese Foren zu Orten der Rechenschaftspflicht und politischen Auseinandersetzung zu machen.

Jetzt gibt es neben FA auch noch Forensis: Was ist der Unterschied?

Die Schwesteragentur Forensis entstand 2021 in Berlin. Forensis stützt sich auf die von FA entwickelten Techniken und Methoden, konzentriert sich aber auf die Erarbeitung gerichtsverwertbarer Fallanalysen, um Verantwortliche für Menschenrechtsverletzungen zu ermitteln. Das ist im europäischen Kontext bei Polizeigewalt, systemischem Rassismus und Antisemitismus, dem Grenzregime, bei Überwachung oder Umweltzerstörung relevant und soll etwa auch Entschädigungsansprüche bei Kolonialverbrechen unterstützen. Wir haben uns in den ersten beiden Jahren unserer Arbeit mit so unterschiedlichen Fällen wie Schiffsunglücken, Pushbacks und Bränden in Geflüchtetenlagern in der Ägäis, dem rassistischen Terroranschlag in Hanau, mit Kriegsverbrechen in der Ukraine und historisch mit dem Völkermord in der einstigen deutschen Kolonie Namibia beschäftigt. Wir sitzen in Berlin mit dem Europäischen Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte (ECCHR) in einem Haus, mit dem wir gemeinsam die Investigative Commons beherbergen, eine erweiterte und multidisziplinäre Praxisgemeinschaft, die sich für soziale Gerechtigkeit und gegen Straflosigkeit einsetzt.

Wer beauftragt euch?

Angesichts weltweit zunehmender staatlicher Gewalt erhalten wir leider viel mehr Anfragen, als wir bearbeiten können. Wir legen bei der Auswahl unserer Fälle mehrere Kriterien zugrunde. Es muss sich um Menschenrechts- oder Umweltvergehen handeln, die vom zuständigen Staat nicht angemessen verfolgt werden. Meistens ist in diesen Fällen der Staat selbst der Täter. Wir brauchen auch eine räumliche, architektonische oder multimediale Dimension, die wir mit unseren Techniken erfassen, analysieren und entschlüsseln können. Unsere Arbeit ist oft kleinteilig, langwierig und teuer. Wir werden in erster Linie durch Zuschüsse aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Technologie und Kunst unterstützt. Manchmal erhalten wir auch Mittel aus Auftragsarbeiten oder aus Ausstellungen. Alle Einnahmen aus diesen Aktivitäten fließen in das Team zurück, um die laufenden Forschungen abzusichern. Natürlich nehmen wir niemals Gelder von Betroffenen, Familien oder Einzelpersonen, die Gewalt erlitten haben und in deren Namen wir Untersuchungen anstellen. In dieser schwierigen Lage war Unterstützung durch Stiftungen wie die Rosa-Luxemburg-Stiftung oft von entscheidender Bedeutung.

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Im NSU-Komplex haben das Oberlandesgericht München und der Parlamentarische Untersuchungsausschuss in Hessen die Erkenntnisse von FA zum Mord an Halit Yozgat weitgehend übergangen. Wie schätzt ihr eure Wirkung ein: Was passiert mit den Beweisen, die ihr ans Licht bringt, wenn Staaten und Behörden sie ignorieren?

Unsere Arbeitsweise ist relativ neu und innovativ, was es oft schwierig macht, starre juristische Verfahrensregeln aufzuknacken. Unsere Ergebnisse legen oft neue Blickwinkel auf bestimmte Gewalttaten nahe, was staatliche Täter und Gerichte durchaus in Verlegenheit bringen kann. Manchmal werden unsere Erkenntnisse von den Behörden aber auch einbezogen. Ein gutes Beispiel ist der Prozess gegen die griechische Neonazi-Partei Goldene Morgenröte, wo unsere Untersuchung des Mordes an dem antifaschistischen Rapper Pavlos Fyssas zur Verurteilung der Kernmitglieder der Organisation beitrug. Aber natürlich sind wir auch auf den Fall vorbereitet, dass unsere Erkenntnisse nicht berücksichtigt werden.

Was passiert dann?

Wir stellen dann sicher, dass wir in alternativen, manchmal auch umstrittenen Foren außerhalb der juristischen Sphäre agieren, wie zum Beispiel in kulturellen Räumen und den Medien. Dabei kehren wir zur ursprünglichen, lateinischen Bedeutung des Begriffs »Forensik« zurück: nämlich zum Marktplatz gehörend, zum Raum des öffentlichen Dialogs. Unsere Arbeit zum Mord an Halit Yozgat durch den NSU war auf der Documenta 14 in Kassel zu sehen, nur 500 Meter vom Tatort entfernt. Zehntausende, darunter auch Polit-Promis und Polizist*innen, die an den damaligen Ermittlungen zum Mordfall beteiligt waren, waren dort mit den Beweisen konfrontiert, ebenso wie der Hauptzeuge, dessen Rolle bei dem Mord wir untersuchten: der Verfassungsschützer Andreas Temme.
Wir wollen Beweise öffentlich präsentieren, egal ob vor Gericht oder im Museum.

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