• Kultur
  • 85 Jahre Novemberpogrom

Dieser 9. November ist ein besonderer

Antisemitismus kennt viele Facetten. Die deutsche Ausprägung war jedoch die mörderischste.

  • Florian Weis
  • Lesedauer: 4 Min.

Der 9. November 1938 markierte einen weiteren Schritt auf dem Weg der antisemitischen Eskalation Nazi-Deutschlands. Bei dem von Goebbels und anderen Nazi-Führern organisierten reichsweiten Pogrom wurden nach staatlichen Angaben 91 Jüdinnen und Juden getötet, viele mehr starben in den folgenden Wochen in der Haft und in Konzentrationslagern bzw. begingen Suizid. Rund 30 000 jüdische Männer wurden inhaftiert, misshandelt, gefoltert und erpresst, um sie zur Abtretung der ihnen noch verbliebenen Unternehmen und Besitztümer weit unter Wert zu nötigen; ein weiterer Schritt der »Arisierung« jüdischen Eigentums, in dessen Folge es 1988 auffallend viele 50-Jahre-Feiern aus Anlass der vermeintlichen Betriebsgründung gab …

Der 9. November 1938 war ein Schritt auf dem Weg in die Shoah, die Ermordung von etwa sechs Millionen europäischer Jüdinnen und Juden. Dem Pogrom gingen zahlreiche antijüdische Gewalttaten, Enteignungen sowie massive juristische Diskriminierungen voraus, etwa das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentum im April 1933 und die Nürnberger Gesetze im September 1935, die Jüdinnen und Juden zu Staatsbürger*innen ohne politische Rechte degradierten und Ehen und andere Beziehungen zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Deutschen unter Strafe stellten. Ein wichtiger juristischer Kommentator dieser antisemitischen Gesetze war bekanntlich der spätere Staatssekretär im Bundeskanzleramt unter Konrad Adenauer, Hans Globke.

Der Völkermord an den Jüdinnen und Juden war als Möglichkeit im Vernichtungsantisemitismus Nazi-Deutschlands frühzeitig angelegt. Es bedurfte aber weiterer deutscher Eskalationsmaßnahmen, nicht zuletzt durch den Überfall auf Polen im September 1939 und die Sowjetunion im Juni 1941, um ihn unumkehrbar und durchführbar zu machen. Die Shoah erwuchs aus einem genuinen Antisemitismus mit Vernichtungsabsichten, sie war aber, wie viele andere Genozide auch, erst im Schatten eines großen und rücksichtslosen Krieges umsetzbar.

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Nach dem Massaker der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023, bei dem mehr Jüdinnen und Juden antisemitischer Gewalt zum Opfer fielen als bei jeder anderen antijüdischen Gewalttat seit 1945, stehen Jüdinnen und Juden auch in Europa und Deutschland – dem Land, das den Holocaust verübt hat – unter Schock. Viele Jüdinnen und Juden fühlen sich und sind bedroht. Darum ist der 85. Jahrestag des Novemberpogroms in Deutschland ein besonderer. Unter Menschen, die sich auf Emanzipation, Demokratie, Antifaschismus und vielleicht zudem noch einen demokratischen Sozialismus beziehen, sollte Einigkeit darüber bestehen, dass ein Erinnern an den 9. November in diesem Jahr neben einem generellen »Nie wieder Faschismus« auch ganz besonders »Nie wieder Antisemitismus« ausdrücken muss. Und es sollte vor allem gelten: Nie wieder ist jetzt.

Es ist dabei wichtig, die vielen Formen und Wurzeln des Antisemitismus zu betrachten, zu gewichten und, bei aller Unterschiedlichkeit, gleichermaßen zu bekämpfen. Nach wie vor werden die meisten antisemitischen Straftaten von jenen begangen, die eindeutig in der Tradition faschistischer und anderer rechtsautoritärer Strömungen stehen. Antisemitische Einstellungen sind in rechten Milieus und Parteien besonders verbreitet. Interessanterweise betonen sowohl der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, als auch der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Josef Schuster, dass die AfD und von ihr vertretene rechte Milieus die größte antisemitische Gefahr darstellten.

Es existieren aber auch Formen von Antisemitismus bei einigen Linken oder jenen, die sich als solche bezeichnen. Historisch betrachtet haben Arbeiter*innen und sozialistische Bewegungen keineswegs immer jeden Antisemitismus bekämpft, ja manchmal sogar selbst antisemitisch gehandelt. Gleichwohl haben in der Arbeiter*innenbegung sich meistens diejenigen Strömungen und Personen durchgesetzt, die den Antisemitismus bekämpften. Auch daraus erwuchs eine lange Geschichte der Allianz zwischen vielen säkularen Jüdinnen und Juden und der sozialistischen Bewegung, in deren Folge Jüdinnen und Juden in vielen Ländern überproportional in sozialistischen Organisationen vertreten waren.

Linke Israelis, aber auch ein Teil linker Jüdinnen und Juden in anderen Ländern fühlen sich seit dem 7. Oktober aber von großen Teilen der nicht-jüdischen Linken verraten und im Stich gelassen. Dies gilt für Deutschland etwas weniger als etwa für die USA oder Großbritannien. Die Linkspartei gab klare Stellungnahmen ab. Auch aus Teilen der radikalen Linken sind klare Positionierungen zu vernehmen, erwähnt sei die »Rote Flora« in Hamburg. Andere Strömungen und Gruppen, von denen sich manche als »postkolonial« bezeichnen, andere einem primitiven, dualistischen Antiimperialismus anhängen, lassen es dagegen an Empathie oft fehlen, von Solidarität ganz zu schweigen. Unbestreitbar gibt es auch in muslimischen Milieus in Deutschland Antisemitismus. Gesamtgesellschaftlich sind all diese Formen von Ressentiments bis Judenfeindschaft aber weniger dominant als der traditionelle rechte Antisemitismus. In der aktuellen Situation werden aber gerade jene von vielen Jüdinnen und Juden als besonders gefährlich wahrgenommen.

Es ist für eine emanzipatorische Linke wichtig, sowohl Verharmlosungen des traditionellen Antisemitismus und eine Instrumentalisierung von Antisemitismusvorwürfen für eine migrationsfeindliche Politik zu bekämpfen als auch die in Teilen der antiimperialistischen Linken sowie muslimischen und/oder arabischen Communities vorhandenen antisemitischen Tendenzen nicht zu ignorieren.

Dr. Florian Weis, Jg. 1967, Historiker bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin, ist Mitherausgeber der Schriftenreihe »Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken«
(www.rosalux.de/publikation).
Hörtipp: Der 25. Podcast von »Rosalux History« widmet sich 3000 Jahren jüdischer Geschichte
(www.rosalux.de/mediathek).

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