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Nahost-Konflikt: Der langsame Krieg

Israels Offensive in Gaza kommt voran – und erzeugt so immer mehr Terroristen

  • René Heilig
  • Lesedauer: 5 Min.

Waffenstillstand – diesen Begriff mögen Israels Militärs im Moment gar nicht. Zugleich jedoch sind sie es, die dafür sorgen, dass die Forderung immer lauter wird. Nicht nur arabische Staaten erheben sie, Frankreich Präsident Emmanuel Macron erreicht damit Zustimmung bei Verbündeten und auch US-Präsident Joe Biden mag sich der Forderung nicht verschließen. Washington hatte gehofft, dass sich Israels Antwort auf den Hamas-Überfall nicht derart in die Länge zieht und so viele Opfer fordert. Die Bilder zerstörter Wohn- und Flüchtlingsviertel, Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser sowie lange Flüchtlingskolonnen dokumentieren viel – nur keine chirurgisch geführten Militärschläge.

Beim Hamas-Terrorangriff kamen am 7. Oktober mindestens 1200 Israelis ums Leben, 240 Menschen wurden als Geiseln verschleppt. Seit Beginn der Kampfhandlungen bilanzierten die israelischen Streitkräfte (IDF) den Tod von bislang 361 Soldaten. Auf der anderen Seite starben bis zum vergangenen Wochenende 4506 Kinder, 3027 Frauen, 678 ältere Erwachsene und 2867 Männer, sagen die Gesundheitsbehörden der Hamas.

Man mag die Exaktheit der Angaben anzweifeln, dennoch schwindet die Unterstützung für Israels Verteidigungsoperation rasant. In einem Brief verurteilen 750 Journalisten meinungsmachender Medien aus aller Welt nicht nur, dass Israel für den Tod von bislang mindestens 35 Kollegen verantwortlich ist. Sie verurteilen vor allem »Israels Gräueltaten gegen Palästinenser«, kritisieren die von israelischen Verantwortlichen benutzte »entmenschlichende Sprache«, mit der »ethnische Säuberungen« gerechtfertigt sowie »Doppelmoral, Ungenauigkeiten und Fehler in der Berichterstattung« verharmlost würden.

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Gegen die schätzungsweise 30 000 für den urbanen Kampf gut vorbereiteten Hamas-Terroristen wendet Israel eine spezielle Taktik an. Wichtigster Punkt: Zeit. Es geht um die Minimierung eigener Verluste. Der Tod eines im Kampf gefallenen Soldaten wird von der israelischen Führung schlimmer bewertet als der eines Zivilisten. Was übrigens auch viel über angebliche Bemühungen zur Freilassung der von der Hamas entführten Geiseln sagt.

Wichtig für die Kampfführung der IDF sind nicht die wenigen Elite-Kommandos, sondern der Einsatz von High-Tech-Waffen. Man versucht dem Kampf »Mann gegen Mann« aus dem Wege zu gehen. Der würde oft zu Ungunsten der israelischen Truppen ausgehen. Nicht nur wegen des ausgeklügelten Verteidigungssystems der Hamas. Deren Führungsmann, der vermutlich als Mastermind hinter dem Angriff von 7. Oktober stand, bringt das Gefühl seiner Leute auf den Punkt: Lieber als Märtyrer in Gottes Reich einziehen, als sich weiter von Israel demütigen zu lassen.

Die Hamas-Terroristen kann man in der Regel nur eliminieren (von Gefangennahme kann keine Rede sein), wenn sie ihre Tunnel und Deckungen für einen der zahlreichen Blitzüberfälle verlassen. Das setzt ein koordiniertes Vorgehen der israelischen Bodentruppen vor allem mit der Luftwaffe voraus. Wird ein gegnerischer Stützpunkt erkannt, schlagen die ständig über dem Schlachtfeld kreisenden Flugzeuge, Hubschrauber oder Drohnen zu.

Zur israelischen Militärtaktik gehört, Schaden von der Zivilbevölkerung in Gaza abzuwenden. Auch deshalb hat man gern ausländische Reporter dabei, wenn Fluchtkorridore für die durch die militärische Einkreisung von Gaza-Stadt eingeschlossen Bevölkerung geöffnet werden. Nur durch eine weitgehende Einhaltung des Kriegsvölkerrechts kann Israel die Legitimität seiner Militäraktion wahren und weiter mit der politischen sowie militärischen Unterstützung westlicher Staaten rechnen. Wer ist Zivilist, wer Kombattant? Die Frage entscheiden vor Ort keine Völkerrechtler, sondern israelische Soldaten. In Sekundenbruchteilen.

Allerdings muss man zweifeln, ob Israels Wahl der Waffen stets angemessen ist. Mehrfach dokumentiert sind Attacken israelischer Jagdbomber, die einen erkannten Tunnelausgang mit zielsuchenden GBU-31-Bomben angriffen. Jede dieser Bomben bringt eine Tonne Sprengstoff ins Ziel – und so ganze Straßenzüge, in denen auch Zivilisten gefangen sind, zum Einsturz. Danach bahnen Bulldozer Panzer- und Infanterieeinheiten den Weg zum nächsten Hamas-Feuerpunkt.
Diese spezielle, die eigenen Kräfte schonende Taktik benötigt Zeit. Aus militärischer Sicht ist also jeder – objektiv dringend gebotene – Waffenstillstand nicht akzeptabel. Denn noch immer beharrt die israelische Führung auf einer vollständigen militärischen Zerschlagung der Hamas. Der Wunsch ist nachvollziehbar, doch ist er real?

Tatsächlich produziert Israel derzeit mehr Terroristen, als es tötet. In Gaza, in der arabischen Welt und in europäischen Communities. Das ist die Logik jeder Aufstandsbekämpfung, sagen Nahost-erfahrene Terrorismusexperten. Wenn es – wie auch immer – nicht gelingt, die Mehrheit der Bevölkerung von militanten Eiferern zu trennen, gerät man in eine Endlosschleife der Gewalt.

Ein Blick in die Geschichte. 1982 marschierte Israel mit 78 000 Soldaten in den Südlibanon ein, um PLO-Terroristen zu eliminieren. Israels Sieg führte noch im selben Jahr zur Gründung der Hisbollah. Sie übernahm die Regie, nachdem sich Israel 1985 zurückzog. Zwischen 1990 und 2005 hielt Israel den Gazastreifen und das Westjordanland militärisch besetzt. Die Hamas und andere palästinensische Gruppen erlitten in der Zeit hohe Verluste – und so mächtigen Zulauf, dass sie bei den Wahlen 2006 alle gemäßigten Konkurrenten abhängen konnte. Im Sommer 2006 eröffnete Israel abermals eine Bodenoffensive im Libanon. Ergebnis: Die mit Iran verbündete Kampftruppe der Hisbollah ist aktuell d e r Machtfaktor in der Region.

Was hat man daraus gelernt? In Gaza zeigt sich erneut: Israel mag kurzfristig Pläne für den militärischen Sieg haben, ein tragfähiges politisches Konzept für die Zeit danach unter Einbeziehung gemäßigter Palästinenser gibt es nicht. Weder in Israel, noch in Washington und schon gar nicht bei der Uno oder der EU.

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