»Aus unserer Sicht«: Die Gesellschaft ist verantwortlich

Neues Bündnis will Betroffene sexualisierter Gewalt vernetzen und zur Aufarbeitung beitragen. An diesem Freitag ist ein erster Fachtag geplant.

  • Louisa Theresa Braun
  • Lesedauer: 4 Min.
»Aus unserer Sicht« will ein Netzwerk für Betroffene sexualisierter Gewalt aufbauen, das sich unter anderem mit Aktivismus zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit beschäftigt. Um eine solche Aktion handelt es sich auch bei den Schuhen für die »Kinder von Lügde«.
»Aus unserer Sicht« will ein Netzwerk für Betroffene sexualisierter Gewalt aufbauen, das sich unter anderem mit Aktivismus zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit beschäftigt. Um eine solche Aktion handelt es sich auch bei den Schuhen für die »Kinder von Lügde«.

Am Freitag findet der erste bundesweite Fachtag von Betroffenen und für Betroffene von sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend statt. Ausgerichtet wird die digitale Veranstaltung vom neu gegründeten Netzwerk »Aus unserer Sicht«. Dessen Anspruch ist es, Betroffene aller Tatkontexte – wie zum Beispiel Familie, Kirche oder Sport – miteinander in Kontakt zu bringen. »Gleichzeitig wollen wir auch marginalisierte Gruppen wie Menschen mit Behinderungen einbeziehen«, sagt Netzwerk-Sprecherin Lena Hofer im Pressegespräch zum Fachtag am Mittwoch. Deshalb werden alle Programmpunkte auch in Gebärdensprache übersetzt.

147 Personen sind bereits angemeldet. Grundlage des Fachtags ist ein intensiver Beteiligungsprozess mit persönlichem Austausch und Fragebögen, über die 365 Personen ihre Wünsche und Erwartungen an ein bundesweites Netzwerk rückmeldeten. So gab es eine Austauschgruppe zum Thema Prävention, die es als Aufgabe des Netzwerkes sieht, der Gesellschaft aufzuzeigen, dass Betroffene nicht ihr Leben lang »gezeichnet« sind und als »Opfer« stigmatisiert werden sollten.

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Eine weitere Gruppe beschäftigte sich mit Aktivismus. Sie schlägt digitale und analoge Aktionen im Kampf gegen sexualisierte Gewalt, für das Empowerment Betroffener und zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit vor. Auch Öffentlichkeitsarbeit war ein Thema: Ihr Schwerpunkt solle die Aufklärung über sexualisierte Gewalt sein, das Erkennen von sexualisierten Übergriffen gegenüber Kindern und Jugendlichen und der Umgang mit Verdachtsfällen.

In einer Gruppe zu den Folgen sexualisierter Gewalt ging es unter anderem um die schwierige Anerkennung einer Schwerbehinderung aufgrund von Traumafolgestörung. Weitere Teilnehmer*innen des Beteiligungsprozesses hielten fest, dass Betroffene dazu befähigt werden sollten, Selbsthilfegruppen zu gründen. »Viele Betroffene haben hervorgehoben, dass es Vernetzung braucht zur Aufarbeitung und eine Erinnerungskultur«, sagt Tamara Luding, die den Fachtag moderieren wird. Dort sind zu all diesen Themen Diskussionsrunden in Kleingruppen geplant.

Außerdem wird es verschiedene Workshops geben, die sich mit dem Aufbau und mit notwendigen Bestandteilen eines umfassenden bundesweiten Netzwerks befassen. »Wir machen das Netzwerk nicht um unserer selbst willen, sondern die Betroffenen sollen es mitgestalten«, erklärt Luding.

So können sich Teilnehmer*innen um die Organisation eines Ethikrates oder einer Aktivismusplattform kümmern, um Öffentlichkeitsarbeit und Schutzkonzepte des Netzwerks oder um Diversität und barrierefreie Zugänge. Auch Austausch und Vernetzung mit anderen Betroffenengruppen stehen auf der Tagesordnung. »Wir wollen ein sinnvolles Bindeglied sein«, so Luding.

Perspektivisch solle das Netzwerk auch dazu dienen, Expertise von Betroffenen stärker in die Öffentlichkeit zu bringen beziehungsweise öffentlichkeitswirksame Forderungen an die Politik zu stellen, sagt Renate Bühm aus dem Vorstand von »Aus unserer Sicht«. Betroffenenräte müssten nicht nur in die Bundes-, sondern auch in Landes- und Kommunalpolitik eingebunden werden.

»Sexualisierte Gewalt sollte als gesellschaftliches Thema und nicht als Einzelschicksal behandelt werden«, erklärt sie. Denn als Betroffene sei man immer schon in Strukturen eingebunden, vom Kindergarten bis zum Sportverein. »Mein Täter und ich haben nicht in einer abgeschlossenen Blase gelebt, sondern in der Welt«, betont Luding. Da habe es »ein aktives Wegschauen« gegeben. Deshalb sei auch die Gesellschaft dafür verantwortlich, »diese Gewalt sichtbar zu machen und für die Folgen einzustehen«.

Auch rechtliche Aufarbeitung spielt eine Rolle. Ein Problem dabei: »Viele Strafrechtsakten werden nach 30 Jahren gesetzlich vernichtet«, erklärt Bühm. »Wir wollen schauen, ob die Frist nicht verlängert werden kann.« Letztlich solle das Netzwerk traumasensibel, transparent und barrierefrei sein.

Die Idee zur Gründung eines bundesweiten Netzwerks entstand bei Kongressen des 2015 gegründeten Betroffenenrats. Fünf Ratsmitglieder haben seit Anfang 2022 gemeinsam mit anderen Betroffenen die Grundlagen zur Trägerschaft und die Kerngruppe von »Aus unserer Sicht« vorbereitet.

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