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Wut nicht nur auf die Hamas

Angehörige der Geiseln kritisieren den Umgang der israelischen Regierung mit den Verschleppten

  • Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Signale sollen wohl Mut machen, ein Zeichen des Fortschritts inmitten eines zerstörerischen Kriegs senden. Doch für die Angehörigen der fast 240 Geiseln, die sich noch in der Hand der Hamas und des Islamischen Dschihads befinden, ist jede Nachricht nun reiner Psycho-Terror.

Am Dienstagmorgen teilte das Außenministerium Katars mit: »Die Vermittlung Katars befindet sich nun in der letzten Phase und ist nah am Erreichen einer Waffenpause.« Inzwischen ist bekannt geworden, dass über 50 Geiseln freikommen sollen. Am Abend zuvor hatten sich mehr als 100 Vertreter der Angehörigen der Geiseln im israelischen Verteidigungsministerium in Tel Aviv zu einem Treffen mit den drei Mitgliedern des Kriegskabinetts versammelt. Regierungschef Benjamin Netanjahu, Oppositionsführer Benny Gantz und Verteidigungsminister Joav Galant wollten über den Stand der Bodenoffensive und der Verhandlungen informieren. Und bekamen den geballten Unmut der Angehörigen zu spüren.

Schon seit Wochen organisieren sie Märsche, Zeltlager, mahnen bei der Regierung an, sich stärker um die Freilassung der Geiseln zu kümmern. Aber Angst und Sorge um die Liebsten treffen derzeit frontal auf die strategischen Erörterungen derjenigen, die den Staat zu führen haben: Die Familien möchten, dass das Militär zuallererst ihre Ehepartner, Großeltern, Kinder, Freunde zurückbringt, die Regierung alles unternimmt, um einen Gefangenenaustausch zu erreichen. Regierung und Militär indes haben den Blick auch darauf zu richten, dass sich ein Massaker wie jenes vom 7. Oktober und der massive Raketenbeschuss danach nicht wiederholen können. Ein kaum aufzulösener Widerspruch.

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Im Gespräch war die Freilassung von 300 palästinensischen Frauen und Minderjährigen aus israelischen Gefängnissen im Gegenzug für etwa 50 Geiseln. Das Ganze soll in eine fünftägige Waffenpause eingebettet sein; pro Tag sollen zehn Geiseln übergeben werden. In diesem Zeitraum sollen auch 300 Lastwagenladungen mit Hilfsgütern zusätzlich in den Gazastreifen eingeführt werden. Die Hamas teilte mit, sie habe die Vereinbarung abgesegnet. Allerdings warnen katarische Diplomaten vor zu großem Optimismus: Das Politbüro der Hamas unter Führung von Ismail Hanijeh sitzt in der katarischen Hauptstadt Doha. Die Telefon- und Internetverbindungen in den Gazastreifen sind gestört, ein Großteil der Infrastruktur der Hamas ist zerstört. Dass die Kontakte zu den Funktionären im Gazastreifen noch so eng wie vor dem Krieg sind, wird allgemein bezweifelt. Zudem ist da auch noch der Islamische Dschihad, der ebenfalls Geiseln festhält. Auch hier ist fraglich, wie engmaschig die Kommunikation noch ist.

Israels Regierungschef Netanjahu steht derweil unter enormem Druck. Lange Zeit vermittelte er den Angehörigen den Eindruck, oberstes Ziel des Kriegs im Gazastreifen sei es, die Geiseln zu befreien. Ein Großteil der israelischen Öffentlichkeit fordert aber die Zerstörung der politischen und militärischen Strukturen der Hamas: Schon seit Jahren lebt man mit immer wiederkehrenden, immer massiveren und immer weiter reichenden Raketenangriffen. Das Massaker am 7. Oktober hat das Übrige getan. Und damit steht ein Dilemma im Raum, das spalterischer nicht sein könnte: Soll man dafür das Leben der mehr als 200 Menschen opfern? Und wie weit ist man bereit, für dieses Ziel zu gehen?

Auch wenn darüber noch keine Debatte geführt wird: Die hohe Opferzahl im Gazastreifen, die Schwere der Zerstörungen regt auch in Israel die Menschen zum Nachdenken an. In persönlichen Gesprächen stellen Israelis aus allen politischen Richtungen die Frage, ob die Dinge einen anderen Verlauf genommen hätten, wenn man entlang des Weges dies oder das anders gemacht hätte.

»Die Zerstörung der Hamas wird Monate oder Jahre dauern, und bis dahin werden unsere Angehörigen das Tageslicht nicht sehen«, sagt Uri Goren, dessen Cousin zu den Geiseln gehört. Und Ditza Or, Mutter einer 30jährigen Geisel, beklagt, dass es einen nur teilweisen Deal geben soll, der vor allem Kinder und Geiseln mit ausländischer Staatsbürgerschaft umfassen soll: »Wer einer solchen Vereinbarung zustimmt, tötet meinen Sohn.«

Der Mann, der mit den Entwicklungen am meisten in Verbindung gebracht wird, ist Regierungschef Netanjahu: Das Erstarken der Hamas im Gazastreifen fällt nahezu vollständig in seine Amtszeit seit 2009; mehrere offene Kriege und viele Dutzend kurzzeitige Konfrontationen lagen in diesem Zeitraum. Zeitweise sprach er aber auch indirekt unter ägyptischer Vermittlung mit der Hamas-Führung und marginalisierte bewusst die palästinensische Regierung unter Führung von Präsident Mahmud Abbas, die schon seit 2007 immer wieder versucht, wieder die Kontrolle im Gazastreifen zu erlangen.

Nun sind es vor allem Netanjahu und sein Likud, denen die Öffentlichkeit die Schuld an der Situation zu geben scheint. Besonders schwer wiegt dabei, dass die Attentäter am 7. Oktober es schafften, nahezu ungehindert den Grenzzaun zu überwinden. Wann immer das Thema angesprochen wird, verweisen Politik und Sicherheitsbehörden auf die Aufarbeitung nach dem Krieg.

Aber schon jetzt ist klar: Für Netanjahu sieht es schlecht aus. Würde jetzt gewählt, würde der Likud Umfragen zufolge nur noch 17 Sitze erhalten, viel zu wenig für eine Regierungsbildung. Doch offiziell hat er noch drei Jahre bis zu den nächsten Wahlen und kann wohl auch noch auf die Unterstützung seiner religiösen und rechtsradikalen Koalitionspartner zählen.

Aber die eigentliche Frage ist, wie lange ihm seine eigene Partei noch zur Seite steht. Die Kommunen in der Nachbarschaft zum Gazastreifen waren traditionell Hochburgen des Likud, und auch ein Teil der Abgeordneten stammt von dort. Viele Jahre galt Netanjahu auch als alternativlos: Der Einzige, der gute Wahlergebnisse erzielen und Mehrheiten im Parlament finden kann.

Doch das mit den Mehrheiten hat sich schon vor langer Zeit abgenutzt: Viel zu oft hatte er allen alles versprochen und dann alles gebrochen. Nun ist die Aura Netanjahus völlig verschwunden.

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