Der Internetkomplex

Jonathan Crary schreibt in seinem polemischen Essay »180 Grad« über die Digitalisierung und den Spätkapitalismus

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 4 Min.
Ist das Internet der globale Apparat zur Auflösung der Gesellschaft?
Ist das Internet der globale Apparat zur Auflösung der Gesellschaft?

Wege in eine andere Welt werden nicht durch digitale Suchmaschinen gefunden.» Dieser markige Satz aus Jonathan Crarys polemischem Essay «180 Grad» bringt sehr deutlich die enorme Skepsis des mittlerweile 71-jährigen Autors gegenüber der digitalen Welt zum Ausdruck. An Crarys 144-seitigem Rundumschlag gegen den «Internetkomplex», wie er dieses Phänomen nennt, kann sich der Leser durchaus reiben. Denn Crarys kapitalismuskritische Position in Sachen Digitalisierung dürfte nicht jeden überzeugen. Dabei steckt dieses streitbare Buch, das wie Crarys Essay «24/7 – Schlaflos im Spätkapitalismus» (2014) ein stilistisch anspruchsvoller Text ist, voll faszinierender Gedankengänge. Die Online-Realität, ständig an seinem Handy zu hängen, im Netz einzukaufen, dort seine alltägliche Kommunikation via sozialer Medien zu führen und sich immer mehr im digitalen Raum zu bewegen, fasst der Professor für moderne Kunst und Theorie an der New Yorker Columbia-Universität mit dem Schlagwort des Internetkomplexes zusammen. Der ist seiner Meinung nach «heute der umfassende globale Apparat zur Auflösung der Gesellschaft».

Die Digitalisierung vom Kapitalismus beziehungsweise vom Spätkapitalismus zu trennen oder als Technologie zu verstehen, die auch in einer nicht- oder postkapitalistischen Welt nutzbar gemacht werden könnte, ist für ihn nicht vorstellbar. Dazu geht Crary zum einen auf die gemeinhin bekannte Entstehung des Internets als Teil einer westlichen militärischen Infrastruktur ein. Er sieht darin aber vor allem den Inbegriff des freien, unregulierten Marktes, in dem alles erlaubt ist, solange es kommodifiziert und monetarisiert werden kann. Das Internet erzeuge einen Raum, in dem alle sozialen Beziehungen marktförmig ablaufen können. Dadurch habe der Neoliberalismus, dem es vor allem darum geht, das Soziale unter einen Marktimperativ zu stellen und eine kulturelle Hegemonie über die sozialen Lebenswelten zu erzeugen, ein wichtiges Ziel erreicht und seine Herrschaft nachhaltig gefestigt. Vor allem das rebellische Potenzial der Jugend, wie es noch in den 60er und 70er Jahren gesellschaftspolitisch prägend war, sei dadurch komplett zerstört worden. So schlüssig und nachvollziehbar das ist, klingt Crarys Kritik gerade gegenüber der Jugend stellenweise aber auch sehr moralisierend und geradezu paternalistisch.

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«Es gibt in den sozialen Medien keine revolutionären Subjekte», schreibt Crary, der sich ein subversives Unterlaufen der digitalen Wirklichkeit nicht vorstellen kann oder will. Gegenüber Aktivist*innen, die auf Seiten wie «taranisnews» oder «crimethinc» mit den Mitteln der Digitalisierung eine publizistische Gegenöffentlichkeit herstellen, über das Netz nicht nur Bewegtbildmaterial verbreiten, sondern auch Debatten führen – egal, ob ukrainische Anarchist*innen zu Wort kommen oder die Black-Block-Aktivist*innen aus Portland Kontakt zu kämpfenden Genoss*innen in Ägypten aufnehmen –, wirkt das wenig realitätsnah. Dennoch steckt in Crarys diskussionswürdigem Text eine lesenswerte Kritik an der heutzutage viel zu wenig hinterfragten und platt gehypten Digitalisierung. Am spannendsten wird das, wenn Crary über die ökologischen Folgen der Digitalisierung schreibt, die viel zu wenig im Fokus einer klimakritischen Öffentlichkeit stehen, die sich nach wie vor auf den Ausstoß und die Infrastruktur fossiler Energien konzentriert.

Dabei wird der Abbau von Kupfer und Seltenen Erden wegen der Digitalisierung fortlaufend intensiviert, gar nicht zu reden von der sich abzeichnenden Wasserknappheit im globalen Süden, die auch mit dem Ausbau der Infrastruktur der Elektrofahrzeuge, also unserem ökologischen Umbau zu tun hat. 500 000 Minen gibt es derzeit auf der Erde, in der rund 45 Millionen Menschen zu niedrigsten Löhnen arbeiten, so Crary, oftmals betrieben von Konzernen, die kaum auf humanitäre, arbeitsrechtliche, gewerkschaftliche oder demokratische Rechte ihrer Arbeiter*innen achten. Die Digitalisierung ist keine ökologische Alternative. Egal, ob es die enormen Strommengen sind, die gebraucht werden, um Serverfarmen zu betreiben und das massenhafte Streamen von Filmen und Serien zu ermöglichen oder die Seltenen Erden, um mit dem Internet der Dinge eine smarte und vermeintlich ökologisch sinnfälligere Umgebung in unseren Metropolen zu erzeugen: Die Digitalisierung oder der «Internetkomplex» führt die zerstörerische spätkapitalistische Praxis der verbrannten Erde einfach fort und lässt sie weiter eskalieren.

Jonathan Crary schreibt in seinem Essay «180 Grad» aber auch kritisch über die Rolle der Wissenschaft, die in der frühen Neuzeit «eine der mächtigsten diskursiven Grundlagen für Rassismus, Frauenfeindlichkeit und jene genozidalen Kolonialprojekte» war, deren Ursprünge in Nordamerika und Europa lagen und die heute eng mit dem System kapitalistischer Logik verknüpft sind, aber ohne ein plattes Bashing der Wissenschaft vorzunehmen. Es geht in dem Text auch um eine Kulturgeschichte der Farben und des Sehens und wie dieses Wissen heute für die Wirtschaft in der Sphäre des Internets nutzbar gemacht wird, um Profite zu steigern. Der Essay des New Yorker Professors, der die ganze Internetbegeisterung, wie sie die kalifornische Ideologie zelebriert, aus einer kapitalismuskritischen Perspektive hingebungsvoll in die Tonne tritt und dabei manchmal übers Ziel hinausschießt, ist zweifelsfrei diskussionswürdig, erscheint jedoch in einem Moment, in dem eh viel und kontrovers über die Bedeutung und die Perspektive der unseren Alltag immer mehr bestimmenden Digitalisierung diskutiert wird.

Jonathan Crary: «180 Grad». Wagenbach, 144 S., br., 20 €.

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