100 Jahre Interpol: Großer Austausch unter Behörden

Die Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation wird 100 und steht selbst unter Verdacht

  • Stefan Schocher, Wien
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein ganz besonderes Vereinstreffen ist es, das dieser Tage in Wien steigt. Interpol wird 100 Jahre alt. Das Polizeinetzwerk wurde 1923 in Österreichs Hauptstadt gegründet. Die jährliche Generalversammlung der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation ist also keine gewöhnliche. Doch kein Kriminal-Tango wird in Wien getanzt und keine Korken werden zum Jubiläum knallen. Denn der runde Geburtstag steht im Zeichen von Konflikten: zwischen Russland und der Ukraine, im Nahen Osten, zwischen autokratischen Bestrebungen und den Bürgern.

Und erst in der vergangenen Woche hatte der Anwalt zweier britischer Staatsbürger in Wien Strafanzeige gegen Interpol-Präsident Ahmed Nasser Al-Raisi gestellt. Der Polizeigeneral aus den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) wird der willkürlichen Festnahme und der Folter beschuldigt. Auch gab es im Vorfeld eine Debatte über den Ausschluss Russlands aus dem Kreis – allerdings nur eine kurze. Das Exekutivkomitee von Interpol lehnte diese Forderung ab.

Bei der Anzeige gegen Ahmed Nasser Al-Raisi geht es um die Inhaftierung und Verurteilung der Briten Matthew Hedges und Ali Issa Ahmad wegen angeblicher Spionage unter Al-Raisis Zuständigkeit. Hedges hatte sich zu Recherchen für sein Doktorat in den Emiraten aufgehalten; Issa Ahmad war als Fußballfan für ein Turnier in die Emirate gereist und verhaftet worden, weil er auf einem T-Shirt die Fahne von Katar trug. Beide wurden erst nach großem internationalen Druck freigelassen. Und beide Briten berichteten, von der Polizei unter Drogen gesetzt und gefoltert worden zu sein.

Die Interpol zugrunde liegende Idee ist eine Vernetzung der Behörden, um grenzüberschreitende Kriminalität besser bekämpfen zu können. Die wichtigste Methode dabei ist der Aufbau gemeinsam nutzbarer Datenbanken. Darin finden sich Informationen über gesuchte Personen, Ersuchen um die Festnahme von Menschen, nach denen gefahndet wird, Aufforderungen oder Anfragen bezüglich Informationsaustauschs.

Es geht dabei um Verdächtige, gesuchte Verbrecher, vermisste Personen, nicht identifizierte Tote, die Vorbeugung gegen mögliche Gewalttaten oder den Dialog über die Vorgehensweisen krimineller Gruppen. Kurz: Interpol versteht sich als globales Kommunikationssystem polizeilicher Organisationen.

Allerdings gibt es nicht einmal einen globalen Konsens darüber, was ein »Verbrechen« überhaupt ist – auch wenn in den Statuten von Interpol die Erklärung der Menschenrechte als Basis für alle Entscheidungen genannt wird. Die Auslegung ist letztlich Sache des Exekutivkomitees. Und darin sind auch etwa China, Ägypten, Bahrein oder die Türkei vertreten, die ihre Auslegung einfordern. In der Diktion der Herrschenden in Bahrein ist so zum Beispiel der politische Dissident Ahmed Jaafar Mohammed Ali ein Verbrecher, der lebenslange Haft verdient hat – und Interpol diente als das Vehikel, um seiner habhaft zu werden.

Die in Wien eingereichte Klage gegen Interpol-Chef Al-Raisi bezieht sich auch auf den Fall von Ahmed Jaafar Mohammed Ali. Dieser hatte 2021 in Serbien um Asyl ersucht, im Jahr darauf aber wurde er auf Basis eines Interpol-Haftbefehls festgenommen und nach Bahrain abgeschoben, wo er seitdem eingekerkert ist.

Die Ausschreibung von Fahndungen dieser Art über Interpol gehört mittlerweile zum Werkzeugkasten autoritärer Regime. Und das ist der Punkt, an dem es sehr kompliziert wird. Es war Stephen Kavanagh, der Exekutiv-Direktor von Interpol selbst, der vor der Konferenz Folgendes sagte: »In einer konfliktreichen Welt wie heute wäre es wohl unmöglich, Interpol zu gründen. Wir wollen aber dafür sorgen, dass die Welt zumindest bei der Strafverfolgung zusammenhält.« Allerdings mangelt es selbst auf diesem ohnehin schon umstrittenen Feld nicht an Eisbergen, die es zu umschiffen gilt. Und so wirkt die sehr allgemein gehaltene Rhetorik vor dem Treffen wie ein Rettungsanker in an sich längst unschiffbar vereisten Gewässern.

Auch Jürgen Stock, Generalsekretär von Interpol, sprach vor der Konferenz etwa von der Bedeutung der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der organisierten Kriminalität, die »das gesellschaftliche, gemeinschaftliche und geschäftliche Leben untergraben« habe.

Doch was bedeutet das konkret? Für den Kreml ist der ukrainische Staatsapparat de facto eine kriminelle Organisation. Für die Erdoğan-Regierung sind es kurdische Politiker oder Aktivisten. Für diverse autokratische Staaten sind es oppositionelle Strukturen. Es stellen sich Fragen wie: Was haben etwa ein Sicherheitsdienst aus Belarus und ein mitteleuropäischer Polizeidienst miteinander auszutauschen?

Und so ist man seitens der Organisatoren aufs Äußerste bemüht, die Tagung nur ja nicht politisch aufzuladen. In einer Mitteilung des österreichischen Innenministeriums zu dem Treffen wird ausdrücklich hervorgehoben: »Das wird keine diplomatische Veranstaltung. Dort tauschen sich Polizisten aus.«

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