Kernfusion: Versuchsreaktor auf dem Bergplateau

Am internationalen Milliardenprojekt Iter zur Erprobung der Kernfusion als Energiequelle scheiden sich die Geister

  • Ralf Klingsieck, Cadarache
  • Lesedauer: 9 Min.
Blick auf das Gelände des Versuchsreaktors Iter in Südfrankreich
Blick auf das Gelände des Versuchsreaktors Iter in Südfrankreich

Vor 15 Jahren, bei einem ersten Besuch in Cadarache, war der dort geplante Forschungsreaktor Iter noch in der Entwurfsphase, und man brauchte viel Fantasie, um ihn sich in dieser Voralpenlandschaft vorzustellen. Seither hat sich dort zwar einiges getan, doch für den Laien ist das Prinzip des International Thermonuclear Experimental Reactor, kurz Iter, nach wie vor nicht leicht nachzuvollziehen. »Mit ihm soll erprobt und demonstriert werden, dass Kernfusion als Energiequelle der Zukunft wissenschaftlich und technologisch umsetzbar ist«, bringt es Projektsprecher Robert Arnout auf den Punkt. »Da weiß man gleich, wohin die Reise geht.« Das lateinische Wort für Reise ist »Iter«.

Im Gegensatz zu Kernkraftwerken, die auf Spaltung basieren, nutzt die Fusionstechnologie die Verschmelzung von zwei Atomkernen. Die Fusion gilt als sicherer, mit geringerem Risiko für Katastrophen wie in Fukushima und weniger radioaktivem Abfall. Befürworter sprechen von einer nachhaltigen und kohlenstofffreien Energiequelle, Kritiker raufen sich bei solchen Behauptungen die Haare.

In dem Kernforschungszentrum, das in der kleinen Gemeinde Saint-Paul-lès-Durance nordöstlich von Marseille liegt und ein milliardenschweres, internationales Energieprojekt beherbergt, hat sich viel verändert. Der 23 000 Tonnen schwere und etwa 30 Kubikmeter große würfelförmige Reaktor befindet sich in der Endmontage. Im nächsten Jahr soll er fertig werden und 2025 den Probebetrieb aufnehmen. Den Termindruck spürt man: Es ist viel Betrieb in dem riesigen Reaktorgebäude, das innen taghell erleuchtet, außen aber mattschwarz gestrichen und mit spiegelnden Inoxschienen verziert ist. Unter der Decke der Halle bewegt sich auf Schienen ein Kran, der Lasten von bis zu 1500 Tonnen heben kann. »Den brauchen wir tagtäglich für die Montage der großen und schweren Elemente des Reaktors, manchmal aber auch für eine Demontage, wenn sich bei einer Abnahmekontrolle ein Mangel – zum Beispiel an einer Schweißnaht – ergeben hat und eine Reparatur vor Ort am bereits montierten Teil nicht möglich wäre«, präzisiert Arnout.

Die Reaktorhalle dominiert das Bergplateau, auf dem sich auch die anderen Gebäude und Anlagen zusammendrängen, die für den Betrieb des Iter benötigt werden. Es bildet das Zentrum eines 120 Hektar großen Geländes, das 2006 vom französischen Staat an die internationale Iter-Organisation abgetreten wurde und das seitdem ein streng bewachtes exterritoriales Gebiet ist, vergleichbar mit den Standorten der Uno in New York und Genf oder der Unesco in Paris. Der Iter-Organisation, die das Projekt trägt, den Bau finanziert und den Reaktor betreiben soll, gehören 35 Länder an: die Europäische Union mit all ihren Mitgliedsstaaten sowie die USA, Russland, China, Japan, Südkorea und Indien. Sie repräsentieren die Hälfte der Weltbevölkerung und 85 Prozent des weltweit erwirtschafteten Bruttoinlandsprodukts. Diese Länder haben 3000 Ingenieure und Wissenschaftler nach Cadarache entsandt, die mit ihren Familien in der Umgebung leben.

»Der Iter wird der weltweit mit Abstand größte und leistungsfähigste Reaktor für Kernfusionen sein«, betont PR-Mann Arnout. »Nach diesem Prinzip produzieren die Sonne und andere Sterne ihre Energie. Es ist also ein völlig natürlicher Prozess, und ohne Kernfusion wäre Leben auf der Erde nicht möglich.«

Wenn leichte Wasserstoffatome extrem hoch erhitzt werden, verschmelzen sie und geben Energie ab, erläutert der Sprecher. Unter aktuellen Bedingungen verspreche die Fusion der Wasserstoffisotope Deuterium und Tritium die beste Energieausbeute. Darum seien sie als Brennstoff für den Iter-Reaktor vorgesehen.

Auf der Erde kann die Kernfusion bereits in sogenannten Tokamak-Reaktoren reproduziert werden. Sie wurden in den 50er Jahren in der Sowjetunion entwickelt, wo man seinerzeit erste Versuche in der Fusionsforschung unternahm. Aus dem Russischen stammt auch der Name der Reaktoren, der ein Wortspiel ist, denn die ersten drei Buchstaben – Tok – bilden das russische Wort für Strom. Auf Initiative der Sowjetunion begann 1985 die internationale Zusammenarbeit, um Kernschmelzung zur Energiegewinnung zu nutzen. Man versprach sich davon nicht zuletzt, dass eine solche friedliche Kooperation dem Kalten Krieg der Blöcke ein Ende bereiten könnte.

Heute gibt es weltweit rund 200 Tokamak-Reaktoren. Dazu gehört der Joint European Torus im britischen Culham, der JT-60SA in Japan und der Asdex in Garching bei München. Doch die meisten Anlagen sind klein, nur einige wenige in Europa, den USA, Japan, China und Russland haben eine für Testreaktoren nennenswerte Größe. Der JT-60SA-Reaktor in Naka nördlich von Tokio wurde vor wenigen Tagen eingeweiht. Er beinhaltet ein Tokamak-Gefäß, das Plasma auf bis zu 200 Millionen Grad Celsius erhitzt. Das Projekt ist eine Kooperation zwischen Japan und der EU und dient als Vorläufer für den Iter in Frankreich, der fast zehn Mal so groß ist wie der JT-60SA.

Trotz jahrzehntelanger Versuche zur Machbarkeit der Kernfusion liegt das Ziel, mit Reaktoren mehr Energie zu erzeugen, als verbraucht wird, in weiter Ferne. Es gibt keine Garantie, dass mit dieser Technologie jemals Marktreife erreicht werden kann, dass also Stromerzeugung unter wirtschaftlich sinnvollen Bedingungen möglich sein wird. Mit einer kommerziellen Nutzung ist nach Ansicht der Wissenschaftler nicht vor dem Jahr 2060 zu rechnen. Auf jeden Fall ist und bleibt Iter eine wissenschaftlich-technische Herausforderung. Trotzdem legt sich EU-Energiekommissarin Kadri Simson fest: Die Fusion habe das Potenzial, »in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts zu einer Schlüsselkomponente des Energiemixes zu werden«.

Doch das ist die Theorie. In der Praxis sind mit dem Iter noch viele Unwägbarkeiten verbunden, wie selbst der Iter-Sprecher einräumt. Darum sei es auch nicht verwunderlich, dass der Zeitplan schon mehrfach korrigiert werden musste und dass sich die Kosten erhöht haben, von anfangs kalkulierten fünf Milliarden Euro auf inzwischen 20 Milliarden.

Die finanzielle Beteiligung der Mitgliedstaaten erfolgt auf freiwilliger Basis. Den größten Anteil haben daran die Zulieferungen von Teilen für den Reaktor und für die ihm vor- oder nachgeordneten technischen Installationen. Wer was liefert, wurde gemeinsam danach entschieden, wozu die einzelnen Länder technisch in der Lage sind. Beispielsweise hat Indien die komplette Kühlanlage mitsamt des umfangreichen Rohrnetzes, der Pumpen und der Batterien relativ niedriger Temperaturaustauschaggregate geliefert, die hier die hohen Kühltürme ersetzen, wie sie früher für Kraftwerke typisch waren. Viele Teile für die rund um den Reaktorkern angeordneten Vakuumkammern und für die dazu gehörenden Magnete kamen aus verschiedenen Ländern Europas und aus China. Dagegen wurde der zentrale Magnet des Reaktors, ein 30 Meter hoher und 1000 Tonnen schwerer Turm, der sich aus vielen Magnetringen zusammensetzt, in den USA entwickelt und gebaut. »Die US-amerikanischen Ingenieure sind besonders stolz darauf, dass man mit dieser Magnetkraft einen Flugzeugträger anheben könnte«, erzählt Arnout.

Weil fast alle Teile des Reaktors und seiner Serviceanlagen sehr groß und schwer sind, kamen sie übers Meer bis zum Zielhafen Marseille-Fos. Für die aufwendigen Spezialtransporte über den rund 100 Kilometer langen Weg bis nach Cadarache wurden Nebenstraßen streckenweise verbreitert oder begradigt. Um den im Wege liegenden Binnensee Etang de Berre zu nutzen und so viele Kilometer Umweg per Straße einzusparen, wurde extra ein breites Schwimm-Ponton gebaut, das über eine ungewöhnlich große Tragfähigkeit verfügt und zusammen mit einem Schubschiff wie ein Schiffsverband manövriert werden kann. So rollten nahe dem Hafen Fos die Tieflader mit den jeweiligen Teilen sowie der Zugmaschine auf das Ponton und nach der Fahrt über den großen See an dessen anderem Ende wieder herunter. »In diesem Herbst haben wir die letzten großen Teile bekommen«, sagt Arnout. »Soweit sie nicht sofort eingebaut werden können, werden sie gut verpackt zwischengelagert.«

Jetzt konzentriert sich alles auf die Endmontage. In dieser Phase arbeiten täglich bis zu 5000 Personen auf der Baustelle. »Iter ist eine Investition in eine bahnbrechende Technologie, die in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts fester Bestandteil des europäischen Energiemixes werden könnte«, versichert in Brüssel ein Sprecher der EU-Kommission. »Als CO2-arme, klimafreundliche Lösung könnte die Kernfusion zusammen mit erneuerbaren Energieträgern für einen ausgewogenen und nachhaltigen Energiemix sorgen.« Auf Gefahren angesprochen, wiegelt ein Experte der Behörde ab: »Kernfusion ist weitgehend ungefährlich. Es entsteht nur kurzzeitig relativ leichte gasförmige Radioaktivität, die sich schnell wieder abbaut. Bei einer Störung bricht die Reaktion einfach ab. Strahlender Atommüll wird dabei nicht erzeugt.«

Das sehen Atomkraftgegner kritischer. So sagt Martial Chateau, Sprecher des Netzwerkes »Sortir du nucléaire« (Raus aus der Kernkraft), dem landesweit rund 900 Vereine und mehr als 60 000 Personen angehören: »Mit dem Wissenschaftsprojekt der Kernfusion wird eine unbegrenzte Energieproduktion vorgegaukelt, dabei handelt es sich zunächst nur um ein abgrundtiefes Loch, in das bereits 20 Milliarden Euro versenkt wurden, denen wohl noch etliche Milliarden folgen dürften.« Davon müsse Frankreich mindestens neun Prozent tragen, also bisher bereits mehr als 2 Milliarden Euro. Seit Mitte der 70er Jahre habe die Kernschmelze bereits mehr als zehn Prozent der gesamten Mittel für Forschung und Entwicklung im Energiebereich verschlungen. »Die gleichen Summen, für erneuerbare Energien und Energiesparmaßnahmen ausgegeben, würden weitaus mehr Arbeitsplätze schaffen, und das bei einer effektiven und dauerhaften Verringerung der Umweltverschmutzung und der CO2-Emissionen«, ist Chateau überzeugt.

Viele Energieexperten sehen es ähnlich wie Chateau: Beim Iter handele sich um ein riskantes und teures Experiment mit offenem Ausgang, das nur auf hypothetischen Versprechungen beruhe und bei dem längst noch nicht sicher sei, ob damit jemals Strom erzeugt werden könne. »Vor allem ist es ein teurer, zeitraubender und ungewisser Umweg, wenn man bedenkt, wie dringend es wäre, schnelle und effiziente Lösungen gegen die globale Erwärmung zu finden«, meint der Kernkraftgegner. Außerdem verweist er darauf, dass sich der Standort Cadarache in einem erdbebengefährdeten Gebiet befindet, dort für das Projekt bereits 42 Hektar Wald geopfert wurden, ganz zu schweigen von den Flächen, die durch die Nebengebäude, die Zufahrtsstraßen und die für den Betrieb unerlässlichen Höchstspannungsleitungen beeinträchtigt werden.

Auch an die Versprechungen von der Umweltfreundlichkeit der Technologie glaubt Martial Chateau nicht: Einer der Iter-Brennstoffe sei Tritium, ein radioaktiver Wasserstoff, der nur in sehr geringen Mengen in der Natur vorkomme. Daher müsse der größte Teil erst in einem traditionellen Kernspaltungsreaktor produziert werden, womit also doch Risiken verbunden seien und radioaktiver Abfall anfalle.

Das alles ficht die Befürworter nicht an. Sie wollen an der Inbetriebnahme des Forschungsreaktors festhalten. Aktuell rechnet man bei dem Projekt mit einer Energieleistung von 500 Megawatt (MW) bei einem für den Prozess nötigen Energieeinsatz von 50 MW. Bei einem industriellen Fusionsreaktor soll später einmal die Energieausbeute dem 30- bis 40-fachen der verbrauchten Energie entsprechen und ein Gramm Fusionsmasse dem Energiepotenzial von acht Tonnen Erdöl. Und so rechnet Sprecher Arnout vor: »Mit dem Lithium, das in einer Laptop-Batterie steckt, und dem Deuterium, das im Wasser einer halben Badewanne enthalten ist, könnten dank Iter 200 000 Kilowattstunden Strom produziert und so der Energiebedarf eines Westeuropäers 30 Jahre lang gedeckt werden.«

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