Machtwechsel mit Popcorn

Polens Nationalkonservative müssen endgültig die Macht abgeben

  • Katja Spigiel
  • Lesedauer: 4 Min.

»Ready, steady, go!« schrieb Donald Tusk am Montagmorgen auf X. Er bezog sich dabei auf das, was am selben Tag im polnischen Parlament, im Sejm, passieren sollte. Die Zeit der nationalkonservativen PiS-Regierung ist nach acht Jahren zu Ende gegangen. Zwar ist die Partei bei den Parlamentswahlen im Oktober stärkste Kraft geworden, für eine Mehrheit im Parlament hat es aber nicht gereicht. Trotzdem: Loslassen wollte PiS nicht und reizte auch noch die letzte Frist zur Regierungsbildung aus. Donald Tusk hat die Zeit genutzt und sich bereits um Koalitionspartner und Koalitionsvertrag gekümmert.

Im ärztlichen Wartezimmer, im Beautysalon oder beim Reifenwechsel in der Kfz-Werkstatt – Polinnen und Polen verfolgten den Livestream aus dem Sejm. Sie wollten dabei sein, wenn es zum Regierungswechsel kommt. Schon am Morgen startete im Warschauer Kino Kinoteka eine Übertragung der Parlamentssitzung. Jacek Aleksandrowicz, der in dem Kino arbeitet, erzählt am Telefon, dass die 600 Tickets für das Public Viewing innerhalb weniger Minuten ausverkauft waren. »Das ist nicht bloß ein Event, zu dem man kommt, um still dazusitzen und einen Film zu schauen«, sagt er »nd«. Im Raum herrsche lebhafte Stimmung, Menschen tauschen sich aus und knipsen Fotos. Die Popcornmaschine laufe heiß, denn die Übertragung geht den ganzen Tag.

Anfang November hat der polnische Präsident Andrzej Duda den Auftrag zur Bildung der Regierung den Nationalkonservativen erteilt. Jetzt musste der bisher amtierende Ministerpräsident vorstellen, was er erarbeitet habe. Aleksandrowicz glaubt, dass es »in Polen zu einer großen emotionalen Erschütterung kommen musste, um das (die Regierung, Anm. d. Red.) zu ändern – und genau das ist geschehen.« Ein Beleg dafür sei die Wahlbeteiligung, die so hoch war wie nie zuvor. »Die Menschen sehen selbst, wie mächtig es ist, dass sie ihre Stimme genutzt haben, sie feiern und freuen sich über den Wechsel der Politik«, sagt der 43-Jährige.

Der Tag des Machtwechsel sei für viele sehr wichtig und auch der Grund für das große Interesse am Happening des Public Viewings. Und es ist auch der Grund für das umgangssprachlich so genannte »Sejmflix«-Phänomen. Tausende Bürger*innen streamen das Geschehen im Sejm und lassen die Abozahlen des Parlamentkanals auf Youtube nach oben schnellen. Wo vor den Wahlen 40 000 Follower*innen waren, sind heute 535 000.

Am Mittag wurde die Vertrauensfrage gestellt und keine Überraschung: Die PiS fiel durch – im Kino wurde geklatscht. Die Partei muss ihren Platz in der Regierung frei machen. Donald Tusk, Chef der liberalkonservativen Bürgerkoalition (KO), wurde am Abend mit der Mehrheit im Sejm zum neuen Premierminister gewählt. Es ist der Machtwechsel, der knapp zwei Monate nach der Wahl von vielen erwartet wurde. Als das Ergebnis klar war, jubelten und klatschten die Zuschauer*innen im Warschauer Kino erneut, einige sprangen vor Freude von ihren Sitzen auf.

»Wir haben auf diesen Tag gewartet«, sagt Marta Zarańska im Telefonat. Sie kandidierte als Abgeordnete für die Neue Linke in ihrem Wahlkreis, der etwa 70 Kilometer südöstlich von Danzig liegt. Der Einzug in den Sejm ist ihr nicht gelungen, von Politik spricht sie nach wie vor leidenschaftlich, lächelnd und schlagfertig. »Wir erleben hier eine ganz andere Emotionalität«, sagt die 27-Jährige. Wenn wir in unserem Privatleben Dinge wie Hochzeiten oder die Geburt eines Kindes erleben, sei das auf individueller Basis wichtig. Jetzt handele es sich für Polinnen und Polen um ein gemeinsames emotionales Erlebnis, das mit der Nation und mit dem »Wer wir sind« verbunden wäre. Der PiS sei die Stirn geboten worden und Zarańska glaubt, dass schon am Wahltag der Weg in ein »neues Polen« freigemacht worden sei.

Ganz so enthusiastisch wie Zarańska äußert sich Agnieszka Łada-Konefał, stellvertretende Direktorin am Deutschen Polen-Institut, im »nd«-Gespräch nicht. Die Frage, ob es einen klaren Kurswechsel geben wird, beantwortet Łada-Konefał mit »Jein«. Das neue Regierungsbündnis sei hungrig nach Veränderung, aber am Ende eines jeden Vorhabens steht Präsident Duda. Der PiS-Partei ist er sehr zugewandt und so sei zu befürchten, dass er nicht nur einmal von seinem Veto Gebrauch machen und Vorhaben blockieren werde. Veränderungen in Bereichen wie Kultur, Justiz, Frauenrechte und Trennung von Kirche und Staat dürften mühsam werden.

Am Mittwoch ist die Vereidigung des neuen Premiers durch Duda geplant. Am Donnerstag könnte sich Polen auf internationaler Bühne, im Europäischen Rat, mit einem neuen Politikstil zeigen. »Wir Polinnen und Polen wissen, dass wir dafür verantwortlich sind. Das haben wir gemeinsam möglich gemacht«, sagt die Politikerin Marta Zarańska. Mit Blick auf den Machtwechsel spricht sie von einer aufmunternden Stimmung und von Pathos, das zu spüren sei. »Aber ja scheiße, wann sonst darf es Pathos geben, wenn nicht an Tagen wie solchen?«

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