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Deutsche Handballerinnen scheitern wieder im WM-Viertelfinale

Ein kollektiver Kollaps gegen Schweden verhindert die erste Medaille seit 2007

  • Erik Eggers, Herning
  • Lesedauer: 5 Min.

Als sie aufwachten aus diesem Albtraum von Herning, kullerten die Tränen. »Es tut so weh«, klagte Emily Bölk, die Ko-Kapitänin der deutschen Handballerinnen nach der desaströsen 20:27-Niederlage gegen die Schwedinnen mit glasigen Augen. Nicht nur sie versuchte, unter den riesigen Tribünen der Jyske Bank Boxen eine Erklärung für das just erlebte Schauspiel zu finden, das eigentlich unerklärlich war. Auch Xenia Smits, die bis dahin so starke Rückraumspielerin, rieb sich immer wieder die geröteten Augen.

Die Auswahl des Deutschen Handball-Bundes (DHB) war zwar nicht als Favorit in dieses WM-Viertelfinale gestartet. Eine knappe Niederlage wäre kein Beinbruch gewesen; das hätte man abhaken können und einfach weitermachen in Richtung des Olympiaqualifikations-Turniers für Paris 2024 und die Heim-Weltmeisterschaft in zwei Jahren. Aber diese 60 Minuten von Herning werden, das ahnten alle Spielerinnen, Trainer und auch die Funktionäre, womöglich lange nachklingen. Sie verlangen eine Therapie, in der diese unglaublichen Geschehnisse erst aufgearbeitet werden müssen.

Denn das Team erlitt zu Beginn der Partie einen Kollaps mit wahrhaft historischen Ausmaßen. Nachdem Mareike Thomaier einen Siebenmeter an den Pfosten geworfen hatte, ging nichts mehr im deutschen Angriff. Immer wieder rannte sich der Rückraum, da die Schwedinnen die Kreisläuferin Julia Behnke clever abschirmten, mit sinnlosen Einzelaktionen fest. Und so kam es zu einer ganzen Serie unvorbereiteter und daher erfolgloser Wurfversuche.

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Fehlwurf Maren Weigel, Ballverlust Behnke, Fehlwurf Smits, Technischer Fehler Bölk, Fehlwurf Behnke, Fehlwurf Alina Grijseels, Fehlwurf Smits, Fehlwurf Grijseels, Fehlwurf Smits – so lautete die Chronologie des Grauens in der Anfangsphase. Es dauerte 14:07 Minuten, bis sich Bölk durchtankte und das erste Mal traf. Schweden führte da allerdings längst mit 7:0. Es war ein Fehlstart, den es auf diesem Niveau seit Jahrzehnten nicht gegeben hatte. »Wir waren gar nicht anwesend«, jammerte Grijseels.

Dabei hatten sich die deutschen Handballerinnen so stark gefühlt nach den ersten fünf Siegen in den zwei Gruppenphasen dieser WM. Aber schon bei der die Hauptrunde abschließenden 28:30-Niederlage gegen Gastgeber Dänemark, einen der Topfavoriten, war die Abwehrmauer erkennbar ins Bröseln geraten, da hatte den Däninnen oft nur eine schnelle Kreuzung für einen Durchbruch gereicht. Gegen die Schwedinnen, die eigentlich keine überragende Feldspielerin in ihren Reihen haben und eindeutig schlagbar waren, agierte die Abwehr plötzlich völlig mutlos. Auch Torhüterin Katharina Filter, die vorher vor Selbstbewusstsein nur so gesprüht hatte (»Wir sind so gut wie noch nie«), hielt nur den ersten der zehn Würfe, die auf sie zugeflogen kamen.

Was denkt man, wenn mal als Zuschauerin auf der Bank auf dieses Desaster blickt? Na ja, sagte Viola Leuchter, man versuche, trotzdem irgendwie fokussiert zu bleiben. Als die enorm veranlagte Linkshänderin aus Leverkusen dann in der 26. Minute auf das Spielfeld durfte, stellte sie sofort unter Beweis, warum sie als das größte Versprechen der deutschen Handballerinnen gilt. Die 1,85 Meter große Halbrechte stieg hoch und warf aus zehn Metern ein, was mühelos aussah. Aber das Spiel war da beim Stand von 6:13 schon durch. Angesichts der aussichtslosen Lage sei es »einerseits leicht und andererseits schwer« gewesen, auf das Spielfeld zu gehen, gestand Leuchter später.

Bundestrainer Markus Gaugisch, für den es das zweite große Turnier ist, wirkte ebenfalls ratlos. Das Team habe nicht die normale Leistung auf die Platte gebracht, so das Urteil des 49-Jährigen, der selbst geschockt schien. Viele hatten, da das Spiel beim Halbzeitstand von 6:16 schon gelaufen schien, mit etwas Verrücktem gerechnet, mit taktischen Überraschungen, um den Gegner zum Grübeln zu bringen. Etwas in dem Stil von Dagur Sigurdsson, der bei der Männer-EM 2016 in schier aussichtsloser Lage das deutsche Männerteam plötzlich mit zwei vorgezogenen Halbverteidigern decken ließ und damit ein sagenhaftes Comeback einleitete. Gaugisch tat nichts dergleichen. Seine einzige wirkliche Umstellung bestand darin, in der 52. Minute Smits in einer 5:1-Deckung nach vorn zu ziehen.

Es scheint kein Zufall zu sein, dass sich Leuchter, die mit 19 Jahren jüngste Feldspielerin in der DHB-Auswahl, zur besten Akteurin im deutschen Team emporschwang. Auch Torhüterin Sarah Wachter parierte stark und hielt mit einer ausgezeichneten Fangquote (42 Prozent) die Niederlage noch in Grenzen. Beide sind erst kurz im Team. Für Leuchter war es das 15., für Wachter das 18. Länderspiel. Sie waren erkennbar unbeschwert in diese Herausforderung WM-Viertelfinale gegangen.

Die gestandenen Spielerinnen hingegen wirkten, als würden sie erdrückt von den negativen Erfahrungen der vergangenen Jahre, als das Team ebenfalls in K.-o.-Spielen apathisch in den Abgrund getaumelt war, etwa im WM-Viertelfinale 2021 gegen Spanien. Diesen schweren Affen auf der Schulter hatten sie in Herning endlich abwerfen wollen. Nun jedoch drückt er noch schwerer auf den Körper. »Ich hatte nicht das Gefühl, dass wir Schiss hatten«, sagte zwar eine ratlose Xenia Smits. Aber ganz offensichtlich hatten sich die Führungsspielerinnen, neben Smits noch Bölk, Grijseels und Filter, so viel Druck auferlegt, dass ihr Traum von der ersten Medaille seit 2007 in einer historischen Pleite endete.

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