Magdalena Saiger: Verschwinden als Chance

Über Magdalena Saigers erstaunliches Romandebüt »Was ihr nicht seht oder Die absolute Nutzlosigkeit des Mondes«

  • André Dahlmeyer
  • Lesedauer: 5 Min.

Der namenlose Ich-Erzähler in Magdalena Saigers Erstling »Was ihr nicht seht« ist ein ausgebrannter Städter, seines Zeichens Kunstfuzzi: Einer, der mit Kunst dealt und Künstler »macht«. Aber das scheint ihn nicht mehr wirklich auszufüllen, er will da raus, weiß aber wohl noch nicht wie. Dann doch. Schuld daran ist ein Hirsch, der ihm in einer für seinen Geschmack unwirtlichen Gegend aus Schotter und Gleisen erscheint. So eine Art Erweckungserlebnis, gilt der Hirsch doch auch als ein Symbol des Aufbruchs. Von der Mystik geblendet beschließt unser Kunstmanager auszubrechen – liegt ja auch auf der Hand, verdammte Hirsche – alles hinzuschmeißen, einfach zu verschwinden, unterzutauchen und es selbst mal mit Kunstmachen zu versuchen. Zwar ist ihm Schotter als Schönheit offensichtlich noch kein Begriff, nur eben monetär, aber wer weiß, die Entscheidung fällt ad hoc, er tut kund, sein Leben ändern zu wollen. Wir nehmen es zur Kenntnis.

Er ist zwar ein kleiner Zyniker, eher ein Berufszyniker, aber mal die Seiten zu wechseln, das kann ja eigentlich nicht schaden. Als Ort der Tat ersinnt sich der Misanthrop eine entlegene Gegend: »Je tieferes Hinterland, desto besser, das Hinterland von Hinterländern, die Zuflucht hinter der Zuflucht.« Er findet, was er sucht, in einem abgebrochenen Braunkohleabbau in der Niederlausitz: verwüstete Landschaft, manche nennen so was Mondlandschaft. Das ist vielleicht auch schön, doch eher unbewohnbar – und vor allem das Resultat der Fremdbestimmung durch Kapitalinteressen, also nicht so weit von dem entfernt, wo unser Protagonist herkam: Da lief es auch nicht anders, wenigstens sind keine Menschen mehr dort. In der Firma war keine Veränderung mehr möglich, zu eingefahrene Bahnen, hier sind die Veränderungen längst abgeschlossen, Niemandsland. (Garzweiler II bei Erkelenz-Holzweiler, Kreis Heinsberg, lässt grüßen.)

Bleibt der Mensch, der eine. Das Dorf wurde »umgesiedelt«, der Tagebau jedoch rasch als unrentabel klassifiziert, Abzug. Die üblichen Ein-Euro-Geschäfte. Am Rande des nun verschwundenen Dorfes, in einer abgetakelten Lagerhalle, beginnt unser Protagonist sein Projekt, den Schlussstrich. Bis dahin eignen sich als cineastische Soundtracks perfekt die Filme »Local Hero« (1983) und »Burning Life« (1994). Wer schon mal auf dem Gelände der alten Ziegelei einer Kommune zwischen Peine und Hannover war, die sich »Zytanien« nennt, assoziiert auch so ein bisschen. Und die lästigen Menschen kann man sich ja wegdenken.

Magdalena Saiger hat einen sprechenden Namen: Saiger ist ein Adjektiv, das in Bergbau und Geologie meist als Synonym für »senkrecht« verwandt wird, im Romankontext als »aufrecht« denkbar. Die Autorin beschreibt den Protagonisten im ersten Teil ihres preisgekrönten Mini-Schmökers überwiegend als aufbegehrenden Systeminfragesteller mit Sockenschuss. Null soziale Kompetenz. Eigentlich nicht lebensfähig. Er ist infiziert von wohlstandsgesättigtem Menschenüberdruss und besessen von seinem Plan, ein überdimensionales Papierlabyrinth zu falten, ein begehbares Kunstwerk, das jedoch nie jemand sehen soll. Ist es das Labyrinth in den Köpfen, der innere Stierkampf? Frau Saiger klärt uns rechtzeitig darüber auf, das Labyrinthe im eigentlichen Sinne keine Irrgärten sind. »Die einzige Sackgasse eines Labyrinths liegt demnach: im Zentrum.« Eine vermutlich im Labyrinth »abgebildete Tanzfigur« sei »spätestens in hellenistischer Zeit« nicht mehr verstanden worden. Nun, Teil des Papiertigerplans ist es ohnehin, das geschaffene Werk auf der Stelle wieder zu vernichten, und für ein fröhliches Tänzchen auf den Trümmern sollte immer Zeit sein.

Zunächst aber schafft unser Bastler Ordnung im äußeren Chaos. Das erinnert an die Romanfigur Lieutenant John J. Dunbar, als er Fort Sedgewick menschenverlassen vorfindet und mittels eines Ein-Mann-Subbotniks flink eine Säuberungsaktion startet, welche die Rothäute verdutzt. Auch als bei Saiger irgendwo sinngemäß die Abbruchkante des Definierten anklingt, erinnert man »Der mit dem Wolf tanzt« von Michael Blake, denn dort wollte Dunbar unbedingt »Dienst am Rande der Siedlungsgrenze« leisten, also an der äußersten Schnittstelle seiner eigenen Welt respektive Wahrnehmung. Hingegen hatte sich Saigers Protagonist dem Leben im Dienste der Kunst und also der selbstgewählten Abhängigkeit verschrieben und versucht sich nun dem Verwertungskreislauf zu entziehen.

Doch mit der selbstgewählten Einsamkeit, sagen wir: Stille, ist es rasch vorbei. Eine zweite, hagere Figur (und auch schon die letzte im Buch) taucht auf. Der Labyrinthkünstler nennt sie Giacometti. Der ist der einzige, der sich nicht umsiedeln lassen hat, er wehrt sich gegen das Verschwinden, während unser Kunstbetriebsaussteiger genau das als Ziel hat. Giacometti, der »Wächter des Dorfes«, agiert als lebende Oral History des Ausgemerzten, Assoziationen zu Fahrenheit 451 drängen sich auf. Freunde werden die beiden nicht, vorsichtiger Respekt ist zunächst vorhanden.

In der Folge fühlen wir uns beizeiten in die »Stalker«-Welten von Andrej Tarkowski und der Strugatzki-Brüder versetzt. Gegen Mitte des Buches kippt die angedeutete Utopie in eine Dystopie: Rasch wird klar, dass unser Kunstmensch auch in seiner neuen Verkleidung kein besserer wird, die kriminelle Energie im Körper ist stark. Es gibt keine Rettung, keinen Ausweg, kein Nirgendwo, nur Stationen der Flucht. Die Geschichte wird zum künstlerischen Amoklauf und niemand bekommt das vollendete Werk jemals zu Gesicht – einschließlich des Künstlers, der schließlich sogar Verrat an Giacometti begeht. Die anfangs sehr poetische Sprache wird mit zunehmender Dauer fast rabiat, tollwütig. Das ist gewollt und passt. Klischeebilder wie Rostiges Blech & Mohnblüte werden dankenswerterweise nicht überstrapaziert. Als Aperçus werden Interessantes zur Kulturgeschichte des Labyrinths gereicht und nach Bandarbeit riechende Fakten zum Werkstoff Papier. Für ein Debüt ist der Roman erstaunlich!

Magdalena Saiger: Was ihr nicht seht oder Die absolute Nutzlosigkeit des Mondes. Nautilus, geb., 168 S., 22 €.

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