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  • Mikrokredite in Bangladesch

Wege in die Überschuldung

Viele arme Menschen sind in Bangladesch auf Mikrokredite angewiesen – weil ihr Lohn nicht zum Leben reicht

  • Gerhard Klas, Kandha Para
  • Lesedauer: 8 Min.
Rikha Begum und ihr Mann fürchten Mikrokredite wegen der hohen Zinssätze.
Rikha Begum und ihr Mann fürchten Mikrokredite wegen der hohen Zinssätze.

»Nur wenige aus unserem Dorf haben es tatsächlich geschafft, der Armut zu entkommen«, sagt Sufia Begum. Dabei feierte die Grameen Bank gerade ihren vierzigsten Geburtstag. Das Institut ist bekannt dafür, Mikrokredite zu vergeben. Die sollten zu einem entscheidenden Mittel werden, um die Armut in Bangladesch zu bekämpfen. Sufia Begum lebt in dem Dorf Kandha Para im Distrikt Tangail. Sie kennt viele, die auf diese Finanzierung zurückgreifen müssen und erklärt: »Den meisten, etwa drei Viertel, bringen die Mikrokredite überhaupt nichts.«

Eine im Januar durchgeführte Befragung von über 400 Textilarbeiter*innen hat erschütternde Ergebnisse hervorgebracht. Die Beschäftigten bekommen dem Bangladesh Institute of Labour Studies zufolge nicht nur zu wenig Lohn, sondern 70 Prozent der Befragten sind hoch verschuldet, unter anderem wegen der Mikrokredite.

Der monatliche Mindestlohn von umgerechnet 70 Euro reicht vielen der rund fünf Millionen Beschäftigten in der Textilindustrie nicht aus, um die Lebenshaltungskosten zu begleichen. Deshalb müssen sich etliche am Ende des Monats Geld leihen: entweder bei Verwandten und Freund*innen oder bei Kredithaien und Instituten wie der Grameen Bank. Die Schulden wachsen beträchtlich an. Zum Teil betragen sie das Siebenfache ihres Mindestlohns. Profiteure sind unter anderem die mehr als 700 Banken und Mikrofinanzinstitute.

Das war eigentlich anders gedacht. Folgt man den Ausführungen des Gründers der Grameen Bank, dem Wirtschaftswissenschaftler Mohammad Yunus, müssten die Mikrokredite in Bangladesch längst die Armut reduziert haben. 2006 wurde er als erster Bankier mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. »Ein dauerhafter Frieden kann nur erreicht werden, wenn große Bevölkerungsgruppen Wege finden, um aus der Armut auszubrechen«, so die Begründung der Jury, Mikrokredite seien ein solches Mittel.

»Wir verleihen Geld an extrem arme Menschen, damit sie sich ein Einkommen schaffen können. Kleinstkredite bis 100 Dollar, mit Rückzahlung in wöchentlichen Raten«, so Yunus bei der Preisverleihung. »Wir verlangen keine Sicherheiten. Man braucht keine Anwälte dafür. Dennoch ist die Rückzahlungsquote sehr hoch: 98,99 Prozent.« Die Mikrofinanzierung sei sehr wichtig, »weil sie es den Menschen ermöglicht, selbst Initiative zu ergreifen, ihre eigenen Fähigkeiten zu entwickeln und sich aus der Armut zu befreien«.

Mikrokredite statt Sozialstaat

Was bei der Preisverleihung nicht erwähnt wurde, sind die hohen Zinssätze von 20 Prozent plus Gebühren. Und dass die zumeist männlichen Geldeintreiber bei Verzug der Ratenzahlung erhebliche Druckmittel anwenden – wenn nicht zuvor schon der Druck der Gruppe gewirkt hat, in der sich die Kreditnehmer*innen zusammenschließen müssen. »Wenn mein Kind krank ist, wage ich mich nicht, es meiner Nachbarin zu erzählen«, erzählt Sufia Begum, »denn das könnte bedeuten, dass ich statt die Rate zu bezahlen, Medikamente für mein Kind kaufe«. Und das bedeutet Ärger mit den anderen. Denn ist eine Kreditnehmerin regelmäßig säumig bei den wöchentlichen Ratenzahlungen, erhält kein Mitglied der Gruppe mehr einen Kredit.

Sufia Begum ist nicht die einzige, die Probleme mit den Ratenzahlungen hat. »Ich bekomme das Elend mit«, erzählt Rikha Begum, die im gleichen Dorf wohnt. »In den Gruppen streiten sie sich oft, die Leute haben schlaflose Nächte, wenn die Ratenzahlungen anstehen.« Deshalb habe sie nie einen Kredit aufgenommen. Sie gehört allerdings auch zu den wohlhabenderen Dorfbewohner*innen, ihr Mann kauft Obst und Gemüse im Dorf auf und verkauft es auf dem nahegelegenen Großmarkt. Auch ihr eigener Acker wirft etwas ab. Andere kommen schneller in die Situation, sich verschulden zu müssen: bei Krankheit für die medizinische Behandlung, die Ausbildung der Kinder – oder einfach für die Ernährung ihrer Familie. Nur wenige bauen sich mit einem Mikrokredit eine berufliche Existenz auf – und die Geldverleiher*innen der Grameen Bank und anderer Institute interessiert das auch nicht. Hauptsache die Raten werden zurückbezahlt.

Vor allem Frauen gehören seit jeher zur Klientel der Grameen Bank. »Frauen sind gefügiger und leichter kontrollierbar, dieses Frauen- und Menschenbild steckt hinter der heute gängigen Praxis, an Frauen Mikrokredite zu vergeben«, so Farida Akther, Frauenrechtlerin aus Bangladesch. »Das geschieht nicht, weil die Grameen Bank und andere Mikrofinanzinstitute den Frauen besonders helfen wollten, sondern sie zahlen die Raten zuverlässiger als Männer.«

Tatsächlich sind bei den Mikrokrediten die Rückzahlungsquoten höher als in anderen Sektoren des Kreditgeschäfts, sie liegen bei über 95 Prozent. Investoren, auch sogenannte ethische Investoren, die Geld von Anleger*innen einsammeln, gelten diese Rückzahlungsquoten als Beleg für den Erfolg der Mikrofinanz. Die Quoten »zeigten eindrücklich, dass es den allermeisten Endkreditnehmern gelingt, ihr unternehmerisches Potenzial zu entfalten«, wirbt etwa der Frankfurter Kreditor Invest in Visions um Anleger, der mit seinen Mikrokreditfonds in vielen Regionen der Welt aktiv ist.

Seit der Preisverleihung ist die Grameen Bank zum Modell für viele Mikrofinanzinstitute geworden und wird von zahlreichen Entwicklungsministerien des Westens gefördert, die wie die Kreditanstalt für Wiederaufbau finanziell davon profitieren. Ein boomendes Geschäftsfeld, in dem heute 150 Milliarden Dollar weltweit im Umlauf sind, 2010 waren es noch 70 Milliarden Dollar. Und die Aussichten für Investor*innen sind gut: Bis 2026 könnte sich der Betrag erneut verdoppeln, schätzen Finanzexpert*innen.

Arme zahlen die Rendite

Mikrokredite sind ein gigantisches Programm der Umverteilung, auf nationaler wie internationaler Ebene: Die Grameen Bank bietet zum Beispiel Sparprogramme und Bonds an, die sie verzinst.

Vor allem die kleine, wohlhabende Schicht in Bangladesch legt so ihr Geld an. Das wird dann als Mikrokredit an arme Familien weitergegeben. Oder ausländische Investor*innen kassieren bis zu neun Prozent Zinsen für das Geld, das sie den Mikrofinanzinstituten leihen. Auch »ethische« Investor*innen aus Europa und den USA kassieren ähnlich hohe Zinsen von Mikrofinanzinstituten, obwohl sie ihren Anleger*innen nur bis zu zwei Prozent Dividende beziehungsweise Rendite ausschütten. Fest steht: Die Kreditnehmer*innen in den Ländern des globalen Südens müssen mit ihren Ratenzahlungen die Zinsen der Anleger erwirtschaften und dafür oft unermessliche Bürden in Kauf nehmen.

»Ideologien habe ich noch nie geschätzt«, schreibt Muhammad Yunus, die Symbolfigur der Mikrofinanz, in seiner Autobiografie. Um dann selbst ein Loblied auf die neoliberale Ideologie anzustimmen: »In den Vereinigten Staaten sah ich«, erzählt er von seinem Wirtschaftsstudium in den USA Anfang der 70er Jahre, »dass die Marktwirtschaft das Individuum befreit und ihm gestattet, seine persönliche Wahl zu treffen«. Die öffentliche Verwaltung ist ihm ein Dorn im Auge. Sie verwende, so behauptet er, die Unternehmenssteuern in erster Linie, um sich selbst zu mästen, für die Armen bliebe so gut wie nichts übrig. »Da die öffentliche Verwaltung nicht gewinnorientiert arbeitet, hat sie kein Interesse daran, ihre eigene Effizienz zu steigern. Ein weiterer Nachteil: Die Regierung kann Sozialhilfe unter keinen Umständen reduzieren, ohne gewaltige Proteste seitens der Bevölkerung zu riskieren. Auf diese Weise verewigt sich die Ineffizienz des Monsters.«

Der Wohlfahrtsstaat ein »Monster« – damit stellt der »Bankier der Armen« die einzigen Strukturen infrage, die den Armen im Kapitalismus Linderung verschafft haben. Yunus’ »Traum« von der »anderen« Gesellschaft deckt sich mit dem westlicher Unternehmensverbände und der ihnen genehmen Politiker*innen und Wirtschaftswissenschaftler*innen. »Alle staatlichen Wohlfahrtsorganisationen würden nicht mehr gebraucht und könnten abgeschafft werden«, behauptet er in seiner Autobiografie. Der Geldkreislauf würde auch dank der Mikrokredite alle Lebensverhältnisse durchdringen – »Financial Inclusion« heißt das in der modernen »Entwicklungspolitik«.

Der ideologische Ansatz der Mikrofinanz überträgt die Verantwortung für ein gutes Leben dem Individuum selbst – im Gegensatz zum Prinzip der Sozialversicherung. Letzteres geht davon aus, dass es Situationen im Leben gibt, auf die das Individuum nur begrenzt Einfluss hat: Krankheiten, Unfälle, Naturkatastrophen. Mikrokredite sind da maximal eine kurzfristige Hilfe und führen unweigerlich in die Überschuldung. Anders als solidarische Sicherungssysteme, die dann effektiv und ohne negative Folgewirkungen die individuelle Existenz sichern können. Aber nicht die Förderung solidarischer Sicherungssysteme, sondern Mikrofinanzprodukte dominieren heute westliche Entwicklungspolitik.

In Bangladesch, so verkündete Yunus vor nicht einmal zwanzig Jahren, könne man mithilfe von Kleinstkrediten und Unternehmertum bis 2030 sogar die »Armut ins Museum« verbannen. Die Realität sieht anders aus: Die Regierung von Bangladesch hat am 7. November den neuen Mindestlohn auf 106 Euro festgelegt. Gewerkschaften hatten das Doppelte gefordert. Die Lohnerhöhung sei nicht mit den steigenden Kosten für Lebensmittel, Wohnungsmieten, Gesundheitsversorgung und Schulgebühren vereinbar. Bei wochenlangen Protesten im Oktober und November gab es drei Tote und unzählige Verletzte, etliche Arbeiter*innen wurden außerdem wegen ihrer Teilnahme an Demonstrationen und Streiks verklagt. Viele westliche Modemarken geben zwar an, sich für existenzsichernde Löhne einzusetzen, tatsächlich unterstützen aber nur wenige die Forderung der Gewerkschaften.

Für die Beschäftigten in der Bekleidungsbranche bedeutet der neue Mindestlohn, dass sie weiterhin ums Überleben kämpfen und immer mehr Kredite aufnehmen müssen. Ein Teufelskreis: Um sie abzubezahlen und den Alltag zu bestreiten sind sie gezwungen, exzessive Überstunden zu machen, Mahlzeiten ausfallen zu lassen oder ihre Kinder statt in die Schule zur Arbeit zu schicken. Und immer wieder neue Kredite aufzunehmen.

Viele Landarbeiter*innen im Distrikt Kurigram haben Mikrokredite aufnehmen müssen, weil ihr Lohn kaum zum Leben ausreicht.
Viele Landarbeiter*innen im Distrikt Kurigram haben Mikrokredite aufnehmen müssen, weil ihr Lohn kaum zum Leben ausreicht.
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