Ausstellung in Schöneberg: »Fotochronist im geteilten Berlin«

Jürgen Henschel fotografierte den sterbenden Benno Ohnesorg – und sah der Westberliner Protestkultur beim Wachsen zu

Der Westen im Wandel: Abrissarbeiten an der Kirchbachstraße in Schöneberg 1962
Der Westen im Wandel: Abrissarbeiten an der Kirchbachstraße in Schöneberg 1962

Grassierende Wohnungsnot, Hausbesetzungen gegen Abrisspolitik, eine unerwünschte Autobahnverlängerung: Die gesellschaftlichen Debatten im Westberlin der 60er bis 80er Jahre erinnern an Probleme der Gegenwart. Mit der Kamera begleitet hat sie Jürgen Henschel – selbstgelehrter Pressefotograf, engagierter Berliner und bekennender Kommunist.

Wer »Jürgen Henschel – Fotochronist im geteilten Berlin« im Schöneberg Museum besucht, begibt sich dementsprechend auf eine stadtpolitische Zeitreise. Zum 100. Geburtstag des 2012 verstorbenen Fotografs hat Kuratorin Johanna Muschelknautz 100 prägende Bilder herausgesucht. An Auswahl mangelte es dabei nicht. Das Museum verfügt über rund 23 000 Negative aus dem Werk Henschels.

Und doch ist das bekannteste Foto unumstritten: Am 2. Juni 1967 ist Henschel zum Schöneberger Rathaus unterwegs, in dem der persische Schah gemeinsam mit dem Regierenden Bürgermeister Westberlins frühstückt. Vor dem Rathaus protestieren Studierende gegen den Besuch des iranischen Machthabers, den sie für Hungersnöte und politische Unterdrückung verantwortlich machen.

Schon am Morgen eskaliert die Situation. Polizei und sogenannte Jubelperser, die den Schah bei seinem Besuch flankieren, prügeln auf Demonstrant*innen ein. Bei abendlichen Protesten vor der Deutschen Oper wird schließlich der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen. Auch Henschel ist dort. Das Foto, auf dem er den sterbenden jungen Mann festhält, verbreitet sich schnell und verschafft der Studentenbewegung der 68er Auftrieb. Es beginnt die »Zeit der Mobilisierung«, wie es Wortführer Rudi Dutschke formuliert.

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Als Henschel das heute ikonische Foto schießt, steht er erst am Anfang seiner Karriere als Pressefotograf. Noch nicht ein Jahr ist vergangen, seitdem ihn »Die Wahrheit«, das zentrale Presseorgan der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins (SEW), eingestellt hat. Der Autodidakt Henschel blickt auf durchwachsene Zeiten zurück: Nach Ende des Zweiten Weltkriegs kehrt er aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft als überzeugter Antifaschist nach Berlin zurück.

Dort angekommen, tritt er der späteren SEW bei, die von der ostdeutschen SED finanziert wird. Henschel ist gelernter Landwirt, bevor er bei »Die Wahrheit« seine Faszination zum Beruf machen kann, verdient er sein Geld vor allem mit Notstandsarbeiten. Zwischenzeitlich arbeitet er als Hilfsschlosser im Reichsbahnausbesserungswerk Tempelhof. In Westberlin ist der Kommunist Anfeindungen ausgesetzt, mehrfach kommt der Fotograf wegen »illegaler Propaganda« in Haft.

Als Fotograf hält Henschel Berliner Alltagsszenen fest, dokumentiert aber vor allem das politische Zeitgeschehen in Westberlin. Und das dreht sich nicht zuletzt um Fragen der Stadtentwicklung: Ganze Blöcke fallen ab den 70er Jahren einer radikalen Neubaupolitik zum Opfer.

Henschel fotografiert Baustellen und die Überreste alter Größen, wie beispielsweise der ehemaligen Schlossbrauerei Schöneberg. Großer Profiteur ist die Klingbeil-Gruppe, die umfangreiche Fördermittel für ihre auf dichtes Wohnen ausgerichteten Neubauten wie das Pallasseum erhält. Gegen die vielen Abrisse der Altbauten formiert sich Widerstand, den Henschel ebenfalls mit seiner Kamera verfolgt.

Jürgen Henschel vor einer Litfaßsäule in Westberlin, September 1957
Jürgen Henschel vor einer Litfaßsäule in Westberlin, September 1957

Anfang der 80er Jahre erreicht der Streit um Wohnraum einen Höhepunkt. Rund 7000 Altbauwohnungen stehen zu diesem Zeitpunkt leer und sollen abgerissen werden. Junge Wohnungssuchende besetzen daraufhin die teils maroden Gebäude, rund 50 davon in Schöneberg. Als im Februar 1981 rund 15 000 Unterstützer*innen mit der Parole »Instandbesetzen statt Kaputtbesitzen« auf die Straße gehen, ist auch Henschel dabei. Er fotografiert auf Demonstrationen, lichtet Altbauten nach ihrer Räumung ab.

Die Abrisspolitik des damaligen Senats in Westberlin ist auch eine Politik des Autos. Riesige Garagen aus Sichtbeton entstehen in der Stadt und Anfang der 70er Jahre sorgen die Pläne für eine Verlängerung der Autobahn vom Schöneberger Kreuz aus für Widerstand. 1973 gründet sich die Bürgerinitiative Westtangente, die statt der Verlängerung mehr Radwege, Grünflächen und Tempo-30-Zonen für die Stadt fordert. Henschel fotografiert Aktionen der Gruppe und ist zur Stelle, als jungen Demonstrant*innen 1978 mit einem Fahrradkorso für Umweltschutz plädieren.

Die Ausstellung arbeitet sich anhand der schwarz-weißen Fotografien chronologisch durch das Wirken des Fotografen bis zur Wende. Schöneberg selbst steht im Mittelpunkt, und doch handelt die Geschichte Henschels und seiner Bilder von ganz Berlin: von West, von Ost und von den Vorläufern einer Protestkultur, die bis heute prägt. Nicht an den Wänden des Museums findet sich übrigens das Foto von Benno Ohnesorg. Seine Erstveröffentlichung auf der Titelseite der »Wahrheit« liegt stattdessen in einer Vitrine.

»Jürgen Henschel – Fotochronist im geteilten Berlin« ist noch bis zum 2. Juni 2024 im Schöneberg Museum zu sehen. Außer freitags (9 Uhr bis 14 Uhr) hat die Ausstellung täglich von 14 Uhr bis 18 Uhr geöffnet.

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