»Jeder Vierte ist in Russland Kriegsdienstverweigerer«

Der Anwalt und Aktivist Artjom Klyga über die Mobilisierung in Russland

  • Interview: Daniel Säwert
  • Lesedauer: 6 Min.
Wer kann, versucht den Dienst in der russischen Armee zu vermeiden. Für viele Männer, vor allem aus ärmeren Regionen, ist das Militär aber nach wie vor eine Aufstiegschance.
Wer kann, versucht den Dienst in der russischen Armee zu vermeiden. Für viele Männer, vor allem aus ärmeren Regionen, ist das Militär aber nach wie vor eine Aufstiegschance.

Herr Klyga, wie ist die Stimmung unter den russischen Männern?

Von September bis Dezember 2022 waren die Männer überwiegend erschrocken. Viele haben versucht auszureisen. Andere, die nicht verstanden haben, was vor sich geht und was sie erwartet, haben die Mobilisierung als Fahrt ins Ferienlager verstanden, in dem es irgendwelche Belustigungen gibt. Und dann gab es noch die Mehrheit, der es egal war. Ihre Haltung war: Wenn der Bescheid kommt, gehen sie in den Krieg, wenn nicht, dann nicht. Ab Januar 2023 war die aktive Phase der Mobilisierung zu Ende. Wer weg wollte, war schon weg. Für die Gruppe mit der Scheißegal-Haltung hat sich nichts geändert. Aber aus denen, die die Mobilisierung falsch verstanden haben, ist eine vierte Gruppe entstanden, die aus dem Krieg ihren Vorteil ziehen will. Sie unterschreiben einen Vertrag, der ihnen im Monat 2000 Euro bringt. Oft kommen sie aus Regionen, in denen man 300 Euro verdient. Eigentlich muss man noch eine fünfte Gruppe nennen. Das sind diejenigen, die im Kriegsgebiet sind und begreifen, was das bedeutet und verzweifelt versuchen, da weg zu kommen.

Interview

Artjom Klyga ist Experte für Militärrecht. In Moskau hat er sich in den Wahlkampfteams unabhängiger Kandidaten engagiert und vor dem Ukraine-Krieg in Musterungskommissionen mitgewirkt. Im März 2022 legte er diese Arbeit aus Protest nieder. Klyga hat Russland verlassen und lebt in Deutschland.

Die aktive Phase der Mobilisierung ist vorbei, haben Sie gesagt. Immer wieder heißt es, nach der Präsidentschaftswahl im März würde die Generalmobilmachung ausgerufen. Wir wirken diese Gerüchte auf die Männer?

Dieses Gerücht wird schon das gesamte Jahr immer wieder aufgewärmt. Seit Juli werde ich immer wieder danach gefragt. Meine Antwort ist nein. Und ich hatte recht. Aktuell gibt es genügend Zulauf. Hinzu kommt, dass das Gesetz noch nicht fertig ist. So gibt es noch keine strafrechtliche Verfolgung derjenigen, die sich dem Bescheid entziehen. Was passiert, wenn man einfach nicht hingeht? Vielleicht 50 Euro Strafe. Und selbst die wird möglicherweise nicht erhoben. Ich denke, dass es zu früh ist, über irgendeine Mobilisierung zu sprechen. Sollte es aber juristische Veränderungen geben, ist das ein besorgniserregendes Signal, dass nichts Gutes kommen wird.

Immer wieder liest man davon, dass die einzelnen Regionen Mobilisierungsquoten erfüllen müssen.

Es gibt Zahlen, wie es sie auch bei der normalen Einberufung gibt. Allerdings sind sie bei der Mobilisierung anders. In Moskau wurden immer weniger Menschen eingezogen als anderswo. Nimmt man indes Regionen wie Burjatien, wurden dort unnormal viele mobilisiert. Oder Dagestan, wo es große Proteste gab, die auch von Journalisten aufgegriffen wurden. Was die Journalisten nicht gesehen haben, kann man nur schwer einschätzen. Wie die ganzen Razzien, bei denen die Männer zur Armee getrieben wurden. Das gilt auch für die Razzien gegen Migranten. Das passiert alles in Gegenden, in denen niemand die Mobilisierung vor Gericht anfechten wird. Deswegen haben wir nur ein schlechtes Bild von dem, was da vor sich geht.

Viele Männer wurden als unabkömmlich zurückgestellt und dürfen nicht eingezogen werden. Wie sicher sind sie wirklich?

Die Wehrämter haben sich diesbezüglich sehr interessant verhalten. Sie haben sich auf geheime Anweisungen berufen, wonach die Zurückstellung nicht gültig ist, wenn sie nach der Mobilisierung erfolgte. Deswegen konnte das Wehramt durchaus mit Recht jemanden in den Krieg einziehen. Diese Position gilt immer noch. Aber plötzlich haben Berufungsgerichte im Sinne der Mobilisierten entschieden. Wenn sie in staatsrelevanten Bereichen arbeiten, gilt die Rückstellung in jeden Fall. Das hat uns natürlich neuen Antrieb gegeben. Wir haben nun die positive Erfahrung, dass man die Einberufung juristisch anfechten kann.

Russland ist traditionell eine konservative männliche Gesellschaft. Wie verhält sie sich gegenüber Verweigerern?

Traditionell schlecht. Schon in der Schule gibt es das Narrativ, Vaterlandsverteidigung sei die Pflicht eines jeden Bürgers. Die Armee gilt als unausweichlich für jeden Mann und eine Ehre zugleich. Hinzu kommt, dass es nur sehr wenige Informationen über den Zivildienst gibt, der formal existiert. Die Militarisierung der vergangenen Jahre trägt ihr Übriges zum schlechten Ansehen von Wehrdienstverweigerern bei. Man wird als nicht normal betrachtet.

Wie hoch schätzen Sie die Zahl der Kriegsdienstverweigerer ein?

Wenn wir Verweigerer als Zivildienstleistende oder Totalverweigerer nehmen, würde ich sie auf bis zu 20 Prozent schätzen. Dann gibt es noch die, die zwar keine Verweigerer sind, aber die Risiken der Armee verstehen und deshalb nach Wegen suchen, dort nicht zu landen, indem sie nach Krankheiten suchen oder ins Ausland gehen. Das sind etwa 25 bis 30 Prozent. Klar habe ich auch solche angetroffen, die unbedingt dienen wollen. Aber das waren nicht mehr als 50 Prozent. Mit dem Krieg hat sich das alles ein wenig verschoben. Mehr Männer versuchen, all dem zu entgehen. Ich denke, dass jeder Vierte Kriegsdienstverweigerer ist.

Im Mai hat eine Kollegin von der Bewegung der Kriegsdienstverweigerer »nd« berichtet, dass sich immer mehr Männer an Ihre Organisation wenden. Wie sieht es heute aus?

Die Zahlen steigen immer noch. Das hängt auch damit zusammen, dass viele Mobilisierte, teilweise erst jetzt, begreifen, dass es sehr schwer ist, aus der Armee raus zu kommen. Hinzu kommen die vielen Razzien wegen der normalen Einberufung, auch in Moskau. Deswegen wenden sich viele an uns. Und auch wegen Kriegsverbrechen im Bereich der Front.

Versuchen Sie, den Menschen in Russland zu helfen oder holen Sie sie gleich aus dem Land?

Wir versuchen, ihnen in Russland zu helfen. Wir organisieren Anwälte vor Ort und bemühen uns, dass die Betroffenen wenigstens mit einer Bewährungsstrafe davonkommen. Wir konsultieren sie auch schon vor den ersten Schritten. Wir haben eine große Anleitung verfasst, was und wie zu tun ist. International versuchen wir, auf das Problem aufmerksam zu machen und suchen nach Anwälten, die helfen können, wenn Asylbescheide abgelehnt werden.

Die Strafen für Verweigerer sind besonders im Kriegsgebiet hoch, bis zu sieben Jahre Haft. Gehen die Männer wirklich lieber ins Gefängnis als weiter zu kämpfen?

Ja, die gibt es. Sie haben vorher erfolglos alles versucht, um dort wegzukommen. Sie verlassen dann einfach ihre Stützpunkte, ohne zu verstehen, dass die Strafe für unerlaubtes Wegbleiben mit jedem Tag steigt. Das Problem ist, dass die Soldaten sich zwangsläufig ergeben müssen, ins Ausland können sie sich schließlich nicht absetzen. Wenn sie aber erst nach einem Monat zurückkehren, fällt die Strafe hart aus. Das weiß kaum einer. Und unsere Arbeit macht es schwerer. Alle zu retten wird nicht gelingen. Deutschland kann auch nicht alle aufnehmen. Aber ich glaube, dass man Kriterien für die Aufnahme schaffen kann. Dann würden auch weniger in den Krieg ziehen. Die Männer suchen nach Hoffnung. Wenn man ihnen zu verstehen gibt, dass man irgendwo Asyl bekommen kann, werden sie es nutzen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal