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Finale der Vierschanzentournee: Springer gegen Flieger

Das Duell um den Gesamtsieg beim Grand Slam der Skispringer zwischen Andreas Wellinger und Ryoyu Kobayashi war zuletzt nie so eng

  • Lars Becker, Bischofshofen
  • Lesedauer: 5 Min.
Ryoyu Kobayashi hat die Vierschanzentournee schon zweimal gewonnen und geht auch 2024 mit einem Vorsprung auf den letzten Backen.
Ryoyu Kobayashi hat die Vierschanzentournee schon zweimal gewonnen und geht auch 2024 mit einem Vorsprung auf den letzten Backen.

Vor dem knappsten Finale der Vierschanzentournee seit sieben Jahren trennen Spitzenreiter Ryoyu Kobayashi und Andreas Wellinger nur 4,8 Punkte – das sind knapp 2,67 Meter. »Das ist nix«, sagt Wellinger. Die Statistik spricht vor dem Duell in Bischofshofen an diesem Samstag um 16.30 Uhr allerdings eine andere Sprache. Ein Rückstand von mehr als vier Punkten wurde letztmals vor 30 Jahren beim letzten Springern einer Tournee noch aufgeholt, als der Norweger Espen Bredesen – mit unfairer und heute nicht mehr legaler Hilfe seines Landmanns Lasse Ottesen – noch den deutschen Spitzenreiter Jens Weißflog überholte. Andreas Wellinger glaubt trotzdem noch an den ersten deutschen Gesamtsieg seit 22 Jahren. Wie sind seine Chancen? Der direkte Vergleich der beiden Spitzenreiter:

Ausgangsposition/Statistik

Ryoyu Kobayashi geht mit einem psychologisch wichtigen Vorsprung ins Tournee-Finale: der Führung, auch wenn sie knapp ist. Zudem hat er den Skisprung-Grand-Slam 2019 vor Markus Eisenbichler und 2022 vor Karl Geiger schon zweimal vor deutschen Springern gewonnen. Wellingers beste Tournee-Gesamtplatzierung war Rang zwei im Jahr 2018. Auf seiner »Heimschanze« in Bischofshofen – Wellinger reist oft aus Berchtesgaden zum Training nach Österreich an – war der Deutsche zwar immerhin schon einmal Dritter (2018). Kobayashi hat hier 2019 aber schon gewonnen. Vorteil für den Japaner: 1:0 für Kobayashi.

Die Anfahrtsgeschwindigkeit

Ryoyu Kobayashi springt Ski der Marke BWT. Die sind farblich gewöhnungsbedürftig – genau wie der Mantel, den der Japaner nach den Wettkämpfen trägt. BWT stellt die Sprungski in Zusammenarbeit mit der österreichischen Marke Fischer her, die bei der Vierschanzentournee durch Geschwindigkeitsprobleme in der Anfahrt auffiel. Andreas Wellinger war in diesem wichtigen Bereich mit seinen Van-Deer-Latten – der Firma der Alpinlegende Marcel Hirscher – meist deutlich schneller als sein japanischer Rivale unterwegs: Bei Wellingers Auftaktsieg in Oberstdorf waren es in zwei Sprüngen insgesamt 1,9 Stundenkilometer. Das sind bei gleicher Sprungleistung knapp zehn Meter im Flug – und die Finalschanze in Bischofshofen hat einen extrem langen Anlauf. Klarer Vorteil für Wellinger: 1:1.

Der Absprung

Die deutschen Skispringer setzen traditionell bei ihrem Flugstil auf einen kräftigen Absprung. Eine Komponente, die durch die Regeländerungen vor dieser Saison mit engeren Anzügen noch deutlich wichtiger geworden ist. Wellinger hat sich vor dieser Saison sogar noch einmal verbessert, springt jetzt aus dem Stand etwa 60 Zentimeter hoch. Deshalb schwebt er nach dem perfekt getroffenen Schanzentisch immer sehr hoch in der Luft. Kobayashi hat dagegen eine flachere Flugkurve – er setzt eher darauf, möglichst schnell in eine perfekte Fluglage zu kommen und nimmt mehr Geschwindigkeit in den steilen Hang. Beide Ansätze funktionieren – im Absprung geht der Punkt jedoch an Wellinger. 2:1 für den Deutschen.

Der Flug

Andreas Wellinger hat als »intuitiver Skispringer« ein echtes Talent zum Fliegen. Doch Ryoyu Kobayashi toppt im Flug auch durch seinen blitzschnellen Absprung-Übergang und sein außergewöhnliches Gefühl jeden anderen Skispringer dieser Welt. »Technisch und fliegerisch macht Ryoyu allen etwas vor«, sagt der letzte deutsche Tournee-Gesamtsieger Sven Hannawald. Deutlicher Vorteil für Kobayashi: 2:2.

Die Nervenstärke

Beide Adler haben schon gezeigt, dass sie Großereignisse gewinnen können: Wellinger wurde schon zweimal Mixed-Weltmeister und ist Doppel-Olympiasieger. Kobayashi hat zwar »nur« einmal Olympiagold und keinen WM-Titel in der Vitrine, dafür aber zwei Tournee- und Gesamtweltcupsiege auf dem Konto. Beide sind Familienmenschen, die aus sportlichen Großfamilien stammen. Eher offene und lockere Typen, die zum Beispiel auf Instagram ihre Fans begeistern (Wellinger 156 000 Follower, Kobayashi 133 000). Wellinger liebt gutes Essen und Genuss, Surfen und Reisen. Der selbsternannte »Neo-Japaner« Kobayashi schnelle Autos, Schuhe und riskante Aktivitäten wie Bungee-Jumping. Unentschieden in diesem Bereich: 3:3.

Die Unterstützung

Schon beim Tourneespringen von Innsbruck waren Papa, Schwester und Schwager von Wellinger an der Schanze, beim Finale in Bischofshofen wird eine ganze Delegation von Familie und Freunden anreisen, zuzüglich der Tausenden deutschen Anhänger natürlich. Dazu hat der deutsche Hoffnungsträger ein perfektes Team von Bundestrainer Stefan Horngacher bis zu Material-Guru Erik Simon an seiner Seite. Kobayashi hat sich sogar sein persönliches »Team ROY« zusammengestellt, mit seinem finnischen Erfolgscoach Janne Väätäinen an der Spitze. Das ist äußerst ungewöhnlich in Japan, wo Skispringer traditionell von großen Firmen-Teams angestellt sind. Dazu hat er seinen großen Bruder Junshiro, der im Mittelfeld mitspringt, immer an seiner Seite. Fans werden Kobayashi dagegen beim Tournee-Finale wohl keine unterstützen – dafür hat er aber auch viel weniger Druck als Wellinger, auf dem die Erwartungen von ganz Skisprung-Deutschland nach 22 Jahren ohne Gesamtsieg lasten. Wellingers Antwort auf die Frage, warum Kobayashi so gut fliegt: »Vielleicht, weil er weniger reden muss als ich.« Insgesamt Remis: 4:4.

Der Wille

Ryoyu Kobayashis Karriere verlief bei wenigen kleinen Rückschlägen fast immer geradeaus nach oben. Wellinger machte dagegen nach seinem frühen Aufstieg zum Teamolympiasieger mit 18 Jahren ganz schwere Zeiten durch: ein Horrorsturz im Jahr 2014, der Kreuzbandriss 2019, ein Jahr nach seinem Einzelgold in Pyeongchang und weitere Verletzungen wie ein Schlüsselbeinbruch beim Surfen. Wellinger kam jedoch immer zurück: »Ich habe immer wieder mal ein paar auf den Deckel gekriegt. Aber jammern hilft nichts – nur kämpfen um meine große Leidenschaft Skispringen.« Das gilt auch für das Tournee-Finale. Ein kleiner, aber vielleicht entscheidender Vorteil für Andreas Wellinger. Endstand: 5:4.

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