Was Konjunkturforscher erwarten

Warum Prognosen meist falsch liegen müssen

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 4 Min.

Konjunkturforscher in aller Welt erwarten in den kommenden drei Jahren einen Rückgang der Inflationsraten. Und die Kurse an den Börsen würden nach dem Rekordjahr 2023 weiter zulegen. Weniger optimistisch sind Forschungsinstitute, Bankanalysten und Organisationen wie Internationaler Währungsfonds für die Weltwirtschaft: Sie werde in diesem Jahr weiterhin nur langsam zulegen. Für Deutschland wird 2024 sogar vielfach eine Rezession erwartet, also ein gegenüber dem Vorjahr kleineres Bruttoinlandsprodukt (BIP).

Es mag so kommen – oder auch nicht. Ausgerechnet das Coronajahr 2020 gilt als das Krisenjahr der Konjunkturprognostik. Im Dezember 2019 hatten Forscher noch goldige Zeiten vorhergesagt. Vier Monate später prognostizierten sie einen historischen Konjunktureinbruch. Das BIP werde in Deutschland um vier Prozent schrumpfen.

Tatsächlich sank das BIP sogar um fünf Prozent. Von »besonderen Herausforderungen«, die eine Prognose riskanter mache als üblich, war im Rückblick auf die Corona-Pandemie kürzlich zu hören, aber auch 2008. Und 2001. Und 1993. Und 1990. Um nur eine Auswahl zu nennen. »Irrtümer und Revisionen gehören zum Alltag der Konjunkturprognostik«, schreibt Laetitia Lenel von der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie forscht zur transatlantischen Geschichte der Konjunkturprognose im 20. Jahrhundert. »Das war in der Vergangenheit so und gilt bis heute.« Tatsächlich offenbare die Analyse vergangener Konjunkturprognosen, dass die Qualität der Vorhersagen trotz aller methodischen Neuerungen in den letzten Jahrzehnten nicht zugenommen habe.

»Ein ernüchternder Befund«, meint Lenel. Der vor allem auf wirtschaftliche Abschwünge zutrifft. Und das ist kein Zufall. Konjunkturprognosen bilden eine Normalität ab, in der Auf- und Abschwünge einander regelmäßig folgen. Dieses Bild prägt die Forschung seit einem Jahrhundert. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten Ökonomen der amerikanischen Harvard Universität und des staatlichen National Bureau of Economic Research der USA dieses Bild einer Welle grafisch »visualisiert« und damit popularisiert. Dahinter verbarg sich die Hoffnung, dass Konjunkturforschung die in Krisenzeiten lauter werdenden Rufe nach staatlichen Eingriffen und sozialistischen Alternativen verstummen lassen könne.

»Kapitalistische Gesellschaften brauchen Vorhersagen«, ist Sozialökonom Ulrich Fritsche überzeugt. Prognosen dienten Wirtschaft und Gesellschaft, Politik und Gewerkschaften als Orientierung und Eckpfeiler. Die Szene blieb bis heute überschaubar. Dazu zählen Wirtschaftsforschungsinstitute wie in der Bunderepublik das Ifo in München oder das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in Düsseldorf, internationale Organisationen wie die für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD), verschiedene Zentralbanken und große Versicherungen, Banken und Fondsgesellschaften.

Professor Fritsche forscht an der Universität Hamburg zu Erwartungen und Prognosen. Ein Schwachpunkt seien »selbsterfüllende Prophezeiungen«. In Umfragen gaben Prognostiker an, dass sie nicht für eine Wirtschaftskrise mitverantwortlich gemacht werden wollen. »Wenn das Gerücht erst einmal in der Welt ist und viele Leute daran glauben, führt es zu einer Kauf- und Investitionszurückhaltung.« Und dann entstehe tatsächlich durch einen Stimmungsumschwung eine Krise. So betrachtet sind die gedämpften Konjunkturerwartungen für 2024 ein ernstes Warnsignal.

Außerdem spielt die Reputation eine große Rolle. So gilt es als offenes Geheimnis, dass Prognostiker einen informellen Erfahrungsaustausch pflegen. Während sie nach außen auf ihre ausgeklügelten mathematischen Modelle verweisen, in die Aberhunderte Datenreihen einflössen. So unterscheiden sich zwar die Prognosen der einzelnen Akteure, aber meist nur in Nuancen. Verständlicherweise: Würde etwa ein extremes Ereignis von einem Experten oder einer Expertin vorhergesagt und es tritt nicht ein, dann besteht die Sorge, dem eigenen Ruf zu schaden. Anderseits gelang es Außenseitern, durch Glückstreffer in die erste Liga der Prognostiker aufzusteigen.

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Bedeutender ist ein grundlegendes Dilemma. Eine Prognose ist immer eine bedingte Aussage, bedingt durch die getroffenen Annahmen. Und als solche muss sie am Ende des Tages immer falsch sein, weil nie alle Annahmen vollständig kontrolliert werden können. Fritsche dazu: »Insofern ist jede Prognose von vornherein immer zum Scheitern verurteilt.« Trotzdem sind Konjunkturprognosen nützlich, als Richtlinien für politisches und wirtschaftliches Handeln. Auch wenn es ganz anders kommen kann, bieten sie eine Entscheidungsgrundlage, machen Handeln quantifizierbar und reduzieren damit ökonomische Unsicherheiten.

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