Schöne Körper, queeres Begehren, geisterhafte Atmosphären

Am 5. Januar 2024 begannen die Tanztage Berlin. Sie zeigen bis zum 20. Januar Arbeiten aufstrebender Künstler*innen

  • Anna Volkland
  • Lesedauer: 6 Min.
Kommen aus der Berliner Ballroom-Szene: Anh Khoa Trần, Christopher Bullen, Felipe Faria und Púca bei der Aufführung ihres Stücks »bodyride«
Kommen aus der Berliner Ballroom-Szene: Anh Khoa Trần, Christopher Bullen, Felipe Faria und Púca bei der Aufführung ihres Stücks »bodyride«

Auch am zweiten Festivaltag der 33. Tanztage Berlin in den Sophiensaelen ist der Publikumsandrang – erwartungsgemäß – groß. Während für die erste Arbeit, das Solo »NuReal Dust« (Premiere) von Nasheeka Nedsreal noch der an immerhin drei Seiten mit Sitzplätzen belegte Hochzeitssaal ausreicht, füllen die beiden Gruppenstücke »Glitch Choir« und »bodyride« (Premiere) bereits den großen Festsaal mit Publikum an fünf Seiten. So unterschiedlich die drei Arbeiten auch sind, sie vereint, dass das Publikum im fast arenaförmigen Aufführungsraum immer sichtbar bleibt. Man ist beieinander und beobachtet (sich). Die Performances verbinden Bezüge zur Clubkultur sowie der großzügige Einsatz von Nebelmaschinen. Vielleicht ist das Ausdruck eines durch die Pandemie sensibilisierten Bewusstseins für die Aerosol-Gesättigtheit geteilter analoger Räume, vielleicht auch eines zumindest temporären Verschleierungsbedürfnisses.

Darüber hinaus ist den Stücke eine künstlerische Autor*innenschaft gemein, die nicht allein im zeitgenössischen Tanz oder in der Choreografie zu Hause ist, sondern in verschiedenen Kunstformen und Performancekulturen, etwa der queeren Ballroom-Szene. Bilder, Posen und Atmosphären sind zentral, auf narrative Dramaturgien wird weitgehend verzichtet. Auch wenn Nasheeka Nedsreal mit einer Art afrofuturistischen Gesichtsbrille maskiert die Rufe »Time for revolution!« und »This is a call!« vielfach stimmlich moduliert, bleibt das deutungsoffen.

Das Festival findet in politisch beklemmenden, auf Eindeutigkeit und korrekte Positionierung pochenden Zeiten statt. Auch vor diesem Hintergrund ist die Multiperspektivität der Bühnenräume lesbar: Die eine richtige Position kann und soll es hier nicht geben müssen.

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Um harte Selektion kommt allerdings auch das an ästhetischem Risiko interessierte Festival für in Berlin lebende »emerging artists« nicht herum: Aus 240 eingereichten Projekten konnten von Kurator Mateusz Szymanówka sechs für eine Festivalpremiere ausgewählt werden, vier weitere als Wiederaufnahmen. Die Lage für Tanzschaffende in Berlin war nie einfach, jetzt ist sie schwierig.

Dazu kommt, dass viele transnationale beziehungsweise migrantische Künstler*innen im Tanz – wie Kurator Szymanówka in seiner weniger festlichen als beunruhigten Eröffnungsrede betonte – wirkliche Angst um ihre Zukunft in Deutschland haben, angesichts etwa der verschärften Debatten um Migrationspolitik und der erstarkten rechtsextremen Kräfte im Land. Er gibt Gefühle der Hoffnungs- und Hilflosigkeit zu, ruft trotzdem dazu auf, für Differenz und gegen jegliche Diskriminierung weiterhin zusammen einzutreten. Die ersten Künstler*innen des Festivals tun das, indem sie Räume eröffnen, die nicht Kriegen und Gewalt eine Bühne geben, sondern verletzlichen Körpern und ihrem Begehren.

Nasheeka Nedsreal lädt ein, die »hybride Natur von Identität« zu erkunden. Ihre Soloperformance vereint Tanz, Sounds, Video, Bildprojektionen, Sprache, Stoffe und Masken, Licht und Nebel, vielleicht sogar Duft. Das Material hätte auch für eine längere Arbeit ausgereicht. Auf verschiedene Weisen lässt sie erst ihr Gesicht, dann ihren Kopf, zuletzt ihren gesamten Körper unter bunten, glitzernden, verschlungenen Stoffbahnen verschwinden. Sie transformiert ihr (tatsächlich wunderschönes) Gesicht durch absurde Grimassen oder digitale Bildmanipulationen auf komische bis unheimliche Weise – und fordert das Publikum auf, dies ebenfalls auszuprobieren. Dass die nur selten leise kichernden Zuschauenden auf ihre Ansprachen und Annäherungen nicht weiter reagieren, scheint Nedsreal nicht zu stören, sie wiederholt selbstbewusst, aber eher rhetorisch die Frage: »Do you understand what I’m talking about?« Heftig ihren Kopf mit den langen, blond durchflochtenen Rastas schüttelnd, mit den nackten schlanken Armen die Luft durchpflügend, findet sie in einem ekstatischen Tanz einen Zustand, in dem sie beinahe einem menschlichen Helikopter gleicht. Der Flug findet in ihrem Bewusstsein statt, sie hatte zuvor von Geistern und Obsessionen gesprochen, zuckt, verdreht die Augen, wie in Trance. Die Performance endet, die Rätselhaftigkeit bleibt – und die Neugier auf weitere Arbeiten der charismatischen Künstlerin.

Die getanzte Chor- und Stimmperformance »Glitch Choir« von Deva Schubert ist um einen Klagegesang choreografiert. Der zitiert nur sehr subtil die hierzulande gewohnten kulturellen Codes der Trauer, indem sich etwa die beiden Tanzenden Deva Schubert und Chihiro Araki mit Pipetten Tränen auf die Gesichter tropfen. Ihr Bewegung und Stimme oft scheinbar spielerisch inspirierendes Duett steht im Zentrum. Ihre beiden Körper und vor allem Münder umkreisen einander, sinken ineinander, sie halten und betönen sich gegenseitig. Ihre Stimmen sind von erstaunlicher Vielfalt: sirenenhaft betörend, blubbernd, kreischend, stöhnend. Die körperliche Intimität der beiden, die sich in Wrestling ähnlichen Kämpfen oder zärtlichen Pietà-Umarmungen zeigt, wird immer wieder durch Performer*innen erweitert, die aus dem Publikum auftauchen. Die singen glockenhell, verwandeln den Raum tänzelnd für kurze Zeit in eine Art Club. Am Ende versammeln sich elf Menschen auf einem und um einen blauen Teppich zu einer Gemeinschaft, die sich immer wieder neu gruppiert und eine sich wiederholende Melodie immer kräftiger singt, dabei auf etwas zu warten scheint. Worauf?

Die letzte Performance des Abends, »bodyride«, präsentieren vier queere Akteur*innen der Berliner Ballroom-Szene: Anh Khoa Trần, Christopher Bullen, Felipe Faria und Púca. Das exakt choreografierte Tanzstück verheißt zunächst vor allem sexy Körper und akrobatische Erotik. Elemente verschiedener Voguing-Stile werden mit ernsten Gesichtern synchron oder solo vorgeführt. Nur in wenigen Momenten wird die coole Präzision durchbrochen und offensiv flirtend ins Publikum gelächelt. Vor allem Púca, die häufig auch als DJ den Sound steuert, bringt Humor in die Performance, kutschiert etwa auf einem Servierwagen die drei anderen zu Madonnas über 30 Jahre altem Hit »Vogue«, der gleichzeitig an den Abgrund hinter dem Lächeln erinnert: »You try everything you can to escape / The pain of life that you know ... I know a place where you can get away / It's called a dance floor«. Die meiste Zeit aber beziehen sich die Performer*innen mit Blicken, Posen, Berührungen und in ihren choreografischen Sequenzen aufeinander. Anders als während Ballroom-Performances üblich, bildet das Publikum der Tanztage keine vertraute Community. »What are you looking at?«, singt Madonna. Gute Frage.

Fast noch im Applaus wenden sich Trần, Bullen, Faria und Púca an das Publikum. Sie lesen auf Englisch ein Statement vor, dass sich gegen Gewalt, Unterdrückung, jede Form der Diskriminierung, auch explizit gegen Antisemitismus ausspricht, betonen allerdings, dass Kritik am Staat Israel nicht in jedem Fall als antisemitisch verstanden werden dürfe. Damit wenden sie sich deutlich gegen die neue Antidiskriminierungsklausel des Berliner Kultursenators und verweisen auf den Offenen Brief an Joe Chialo. Das Publikum der Sophiensaele wird zum offenen, angstfreien Dialog ermuntert – der Applaus kommt sofort. Das Thema aber bleibt angstbesetzt, der offene, friedliche Dialog für viele mehr als herausfordernd.

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