Wohnungsneubau in Berlin: Schlimmer als die Statistik zeigt

Die Berliner Bezirke führen die Baustatistik katastrophal. Der Senat zuckt mit den Achseln

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 9 Min.

Dieser Tage müssten sie eigentlich an den Berliner Baustellen herumwuseln und eifrig Notizen machen, die Beschäftigten der Bauaufsichtsämter der Bezirke. Zumindest in jenen Fällen, in denen die Bauherren nicht ihren Pflichten nachkommen und mitteilen, wie weit die Projekte fortgeschritten sind. Denn derzeit werden für das Landesamt für Statistik Berlin-Brandenburg die Angaben erfasst, mit denen die sogenannte Bauüberhangsstatistik für 2023 erstellt wird.

Die jährlich im Juni veröffentlichten Zahlen, unter anderem zu den fertiggestellten Wohnungen des Vorjahres, sind die Basis vieler politischer Entscheidungen und hitziger Diskussionen – nicht nur zwischen den politischen Lagern. Auch Bauverantwortliche stützen sich auf sie.

Laut Senatsbauverwaltung ist diese Statistik »ein wichtiger Indikator für die Analyse des Wohnungsmarktes und stellt das Potential der Fertigstellungen der nächsten Jahre dar«. Der korrekten Baustatistik werde eine bedeutende Rolle beigemessen, da sie eine wichtige Grundlage für die Planung, Entwicklung und Steuerung des Wohnungsbaus bilde. »Eine präzise Statistik ermöglicht es, die Bedarfe im Wohnungsbau besser zu verstehen, Ressourcen effektiver zu verteilen und angemessene politische Maßnahmen zu entwickeln«, unterstreicht die Bauverwaltung.

Die Aussagen machen den Eindruck, als würde die Verwaltung von Senator Christian Gaebler (SPD) der korrekten Statistik eine hohe Relevanz zumessen. Sie finden sich in der Antwort auf eine schriftliche Anfrage der Grünen-Abgeordneten Katrin Schmidberger und Julian Schwarze. Die beiden sind in der Abgeordnetenhausfraktion für Wohnen und Mieten beziehungsweise Stadtentwicklung zuständig. Doch die ebenfalls in der Antwort enthaltenen Zahlen aus den Bezirken sprechen eine andere Sprache.

Statistikwunder in der Baukrise

Reinickendorf war die Wohnungsbauüberraschung in der Statistik für das Jahr 2022. Denn erstmals in jüngerer Zeit wurde dort für das Jahr die Fertigstellung einer vierstelligen Anzahl von Wohnungen gemeldet. Laut der einmal jährlich erfassten Bauüberhangsstatistik sollen dort 1014 neue Wohneinheiten fertig geworden sein, deutlich mehr als die laut derselben Statistik für 2021 gemeldeten 644 Wohnungsfertigstellungen im Nordbezirk.

Dabei war die Baukrise schon im vollen Gang. Die Corona-Pandemie sorgte seit 2020 für stillliegende Baustellen, explodierende Preise für viele Baumaterialien und große Nachschubprobleme. 2022 verschärfte der russische Angriffskrieg auf die Ukraine die Lage auf dem Bau noch weiter. Die Statistik ist daher eine positive Überraschung.

Nur: Die Statistik trügt. Gesichert wurden in Reinickendorf im Jahr 2022 nur 372 Wohnungen fertig, fast zwei Drittel weniger als ausgewiesen. Das meiste war bereits lange fertiggestellt. Nach korrekter Zuordnung der Baujahre waren es 2021 mit mindestens 1208 Wohnungen fast doppelt so viele wie damals offiziell in der Jahresstatistik ausgewiesen.

Fast 1000 Wohnungen übersehen

Spitzenreiter bei der Differenz in absoluten Zahlen war 2022 allerdings Treptow-Köpenick, wo fast 1000 der knapp 4000 für das Jahr ausgewiesenen Fertigstellungen bereits mindestens ein Jahr vorher erfolgt waren. Wegen des hohen Bauvolumens beträgt die prozentuale Abweichung nur ein Viertel, womit sich Treptow-Köpenick im Mittelfeld aller zwölf Bezirke befindet.

Das Feld ist weit. In Steglitz-Zehlendorf war fast die Hälfte der 672 gemeldeten neuen Wohnungen für 2022 bereits in früheren Jahren fertig, in Mitte waren es 40 Prozent von 1398. Am anderen Ende der Skala liegt Spandau, wo nur 45 von 1086 gemeldeten Wohneinheiten bereits vor 2022 fertiggestellt waren, was einer Quote von 4,1 Prozent entspricht. Auch in Friedrichshain-Kreuzberg, Marzahn-Hellersdorf, Lichtenberg und gerade noch Pankow liegt die Abweichung im einstelligen Prozentbereich. Die Zahlen hat das Landesamt für Statistik Berlin-Brandenburg in der Antwort auf die schriftliche Anfrage geliefert.

Senator glänzt mit falschen Zahlen

Berlinweit wurde für 2022 in der Bauüberhangserhebung die Fertigstellung von 17 310 Wohnungen gemeldet. Doch rund 3500 davon waren bereits früher fertiggestellt worden, wie aus Zahlen hervorgeht, die das Statistikamt auf nd-Anfrage zur Verfügung gestellt hat. Gesichert fertig wurden 2022 also nur 13 801 Wohnungen. Damit wurden gerade einmal zwei Drittel des von der SPD ausgegebenen Bauziels von 20 000 pro Jahr erreicht. Trotzdem wird Bausenator Christian Gaebler nicht müde, sich mit Bezug auf die nachweislich falsche Statistikzahl erleichtert zu zeigen, wie viele Wohneinheiten trotz Baukrise fertig geworden seien.

»Gerade die SPD-geführte Senatsverwaltung, die sich für Berlin das Bauen-Mantra auf die Fahnen geschrieben hat, schludert mit ihrer eigenen Statistik und schmückt sich mit falschen Lorbeeren«, kritisiert die Grünen-Politikerin Schmidberger im Gespräch mit »nd«. »Wer seriös Politik machen will, muss doch ein Interesse an den genauen Daten haben«, bekräftigt sie.

Bezirke müssen Daten erfassen

Verantwortlich für die Erhebung der Angaben der sogenannten Bauüberhangsstatistik sind die Bauaufsichtsämter der Bezirke. Jeweils zum 31. Dezember jeden Jahres müssen laut Hochbaustatistikgesetz des Bundes alle Bauaufsichtsämter in Deutschland den tatsächlichen Stand aller Vorhaben ermitteln, die genehmigt, aber noch nicht als fertig gemeldet wurden. Der Fachbegriff dafür lautet »Bauüberhangserhebung«.

Jeweils im November verschickt das Amt eine Liste dieser Objekte an die Bauaufsicht. Diese muss dann bis Mitte Februar für jedes Objekt eine von fünf Angaben machen: »(1) noch nicht begonnen; (2) begonnen, nicht unter Dach; (3) begonnen, unter Dach; (4) fertiggestellt einschließlich Datum; (5) Genehmigung erloschen«. Jedes nicht fertige Objekt durchläuft lückenlos jährlich diese Abfrage.

Im Zweifelsfall Prüfung vor Ort

Sind die Informationen zu alt, muss eine Abfrage beim Bauherrn erfolgen; ist die Antwort nicht glaubhaft oder erfolgreich, ist eine Inaugenscheinnahme des Objekts erforderlich. Bei der Überhangserhebung fallen deshalb am Jahresende automatisch alle bisher nicht gemeldeten Fertigstellungen auf.

Bereits im Sommer 2023 startete »nd« bei allen zwölf Bezirksämtern eine Abfrage, wie dort den Verpflichtungen aus dem Hochbaustatistikgesetz nachgekommen wird. Teilweise war ein Nachhaken erforderlich, bis tatsächlich alle Antworten eintrafen. Erst jetzt, mit dem Vorliegen der Daten des Statistikamtes, ist es möglich, die Antworten der Bezirke auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen.

Nach Auswertung der Zahlen für die Jahre 2016 bis 2022 lässt sich die Performance der einzelnen Bezirke in drei Gruppen einteilen. Wir haben dafür die Mediane gebildet, ein statistisches Verfahren, das einzelne Ausreißer weniger stark in den Wert einfließen lässt als der klassische Durchschnitt. Alle Werte finden sich im abgebildeten Diagramm.

Stark wechselhaftes Meldeverhalten

Die Nachmeldequoten der Berliner Bezirke im Vergleich. Daten: Landesamt für Statistik Berlin-Brandenburg, eigene Darstellung
Die Nachmeldequoten der Berliner Bezirke im Vergleich. Daten: Landesamt für Statistik Berlin-Brandenburg, eigene Darstellung

Da gibt es zwei Bezirke, die recht kontinuierlich weitgehend korrekte Zahlen lieferten. Bei acht weiteren Bezirken ist es eher wild. Mal gibt es viele, mal kaum Nachmeldungen. Diese sind aber, das sollte man im Hinterkopf behalten, eine Folge von Versäumnissen vor allem des Vorjahres. Denn fast drei Viertel der verspäteten Meldungen hätten jeweils ein Jahr zuvor in die Statistik einfließen müssen.

Und dann gibt es noch zwei Bezirke, die offenbar dauerhaft kaum Ehrgeiz zeigen, eine korrekte Bauüberhangsstatistik abzuliefern. Es sind Steglitz-Zehlendorf und Reinickendorf mit im Median 15 beziehungsweise zwölf Prozent Anteil an Nachmeldungen über die sieben betrachteten Jahre.

Versagen wird teils eingeräumt

Immerhin räumten sie die schlechte Praxis auf nd-Anfrage unumwunden ein. »Die Bau- und Wohnungsaufsicht Steglitz-Zehlendorf konnte im Rahmen der Feststellung des Bauüberhangs in den letzten Jahren nicht den aktuellen Bautenstand vor Ort ermitteln«, heißt es aus dem Südwesten. Es erfolge »seit vielen Jahren, bis auf wenige Ausnahmen, nur eine Auswertung nach Aktenlage«.

Angesichts von »Personalmangel und der anfallenden Ordnungsaufgaben (Gefahr in Verzug) muss hier die Bauaufsicht Prioritäten setzen«, erklärt die Reinickendorfer Bauaufsicht. »Insofern kommt es hier leider sehr oft zu nicht unerheblichen Zeitverzögerungen bei der Meldung zum Bautenstand und der Fertigstellungsmeldung.«

Beschönigte Selbsteinschätzungen

Bemerkenswert sind teilweise die Antworten der großen Gruppe von Bezirken, die auch eher schlecht als recht ihren Pflichten bei der Baustatistik nachkommen. »Der Fachbereich Bau- und Wohnungsaufsicht im Bezirk Mitte hat sowohl für die Jahre 2021 als auch 2022 dem Amt für Statistik in allen geforderten Fällen den Bautenstand mitgeteilt«, heißt es aus dem Bezirk mit dem berlinweit drittschlechtesten Wert. Auch Neukölln lässt wissen, die Daten »fristgemäß und in Abstimmung mit dem Amt für Statistik« zu übermitteln. Friedrichshain-Kreuzberg gibt an, »in allen durch das Amt für Statistik angefragten Fällen« den Bautenstand übermittelt zu haben.

Aktualität ist eine Zier

Andere Bezirke wie Tempelhof-Schöneberg neigen zur Untertreibung. Hier ist die Rede von Einzelfällen, in denen »ein tatsächlich bereits fertiggestelltes Bauvorhaben noch nicht als solches erfasst wird«. Marzahn-Hellersdorf lässt durchblicken, dass die schlecht geführte Statistik eigentlich kein Beinbruch ist. »Auf lange Datensicht« sei die Abweichung irrelevant. »Es wird die Aktualität schlechter, jedoch nicht Quantität und Qualität.«

Lichtenberg ist Klassenbester

Auf dem Siegertreppchen in der Auswertung hat Spandau den zweiten Platz errungen. Der Westbezirk hat tatsächlich weitgehend korrekte Daten im Betrachtungszeitraum geliefert. Unangefochten auf Platz eins liegt Lichtenberg. »Die Übermittlung ist stets pünktlich und korrekt erfolgt«, kann das Bezirksamt zurecht erklären. Man kann es schon als Understatement werten, wenn dennoch erklärt wird, dass es »in Einzelfällen« wegen verspäteter Anzeigen der Baufertigstellung oder menschlicher Fehler verspätete Meldungen gegeben habe.

Der Senat war schon weiter

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»Die Datengrundlage muss dringend verbessert und eine systematische Erfassung ermöglicht werden«, fordert Grünen-Politikerin Schmidberger. »Der Senat war hier in der Vergangenheit schon weiter und hatte bereits ein Programm zur Unterstützung der Bezirke in den Jahren 2020 und 2021 angeboten, um eine bessere Datengrundlage zu erreichen«, erinnert sie.

Die Stadtentwicklungsverwaltung finanzierte in jenen Jahren externe Dienstleister, die die Erhebung des Bautenstands übernahmen. Denn als durchaus nachvollziehbarer Grund für die schlechte Datenlage wird aus den Bezirken fast einstimmig Personalmangel genannt. Doch offenbar liegt es auch an weit verbreitetem Desinteresse, denn maximal vier der Bezirke nahmen das Angebot in Anspruch. Laut den vorliegenden Zahlen hätten zehn Bezirke offensichtlichen Bedarf. Das nicht verlängerte Programm war eine Folge einer 2019 im Auftrag der Senatsbauverwaltung angefertigten Untersuchung zum Bauüberhang.

Halbherzigkeit beim Bausenator

»Angesichts der massiven Herausforderungen beim Wohungsbau ist die Erarbeitung einer besseren Datenlage kein Hexenwerk«, sagt Schmidberger. Eine verlässliche Datengrundlage sei zwingende Voraussetzung, um die Bedarfe im Wohnungsbau zu ermitteln und entsprechend politische Maßnahmen abzuleiten. »Dass sich der Senat selbst bei dieser vergleichweise einfachen Aufgabe wegduckt, beweist seine Halbherzigkeit, wenn es um den richtigen Neubau geht«, so die Parlamentarierin.

»Wir fordern schon lange eine bessere Kontrolle der tatsächlichen Baufortschritte«, sagt Schmidberger. Die Bezirke müssten befähigt werden, einheitlich zu berichten, und es brauche geschultes Personal, das die Bauprojekte nach dem tatsächlichen Fortschritt überprüft.

Digitalisierung soll es richten

Von zusätzlichem Personal ist keine Rede in der Antwort der Senatsbauverwaltung. Es werde »eine digitale Übertragungsmöglichkeit und direkte Abrufbarkeit der Daten durch das Landesamt für Statistik Berlin-Brandenburg (AfS) beim elektronischen Baugenehmigungsverfahrenprogramm (ebG) entwickelt«, heißt es. Damit werde eine »medienbruchärmere« Übermittlung ermöglicht. Daten müssen also nicht mehr abgetippt oder manuell herauskopiert werden. »Diese Verbesserung der Erfassungsmethode wird wesentlichen Einfluss auf die Effizienz und Aktualität der Datensachlage haben«, verspricht die Verwaltung.

Die derzeitige händische Eintragung sei aufwändig, »weil das in Berlin verwendete elektronische Baugenehmigungsverfahren diesbezüglich nicht vollumfänglich und nicht anwenderfreundlich ausgestaltet ist«, heißt es aus Pankow. Ob und wann es besser wird, ist, wie meist, offen.

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