Leningrader Blockade: »Ostalas odna Tanja«

Vor 80 Jahren wurde Leningrad befreit. Über eine Million Leningrader wurden Opfer eines Völkermordes

Täglich wurde gestorben, in Leningrad während der Blockade – massenhaft.
Täglich wurde gestorben, in Leningrad während der Blockade – massenhaft.

Odin, dwa, tri ... »In den zehn Minuten, an denen ich am Fenster saß, zählte ich zehn Tote«, sagt Maria Burakova. Am Tag, an dem die deutsche faschistische Wehrmacht ihre Heimatstadt, Leningrad, umringt und einkesselt hatte, am schicksalhaften 8. September 1941, hatte sie ihren 15. Geburtstag feiern wollen. »Plötzlich Bomben, Bomben, Bomben. Höllischer Lärm«, erinnert sich die Veteranin im nd-Gespräch: »Straschno bilo.« Schrecklich war’s.

Eigentlich ist das Grauen nicht in Worte zu fassen, das die Menschen in der Stadt an der Newa während der über 900-tägigen Blockade, im mörderischen Würgegriff der Deutschen, durchlitten. Sie fielen auf der Straße um, schliefen auf der Parkbank oder am leeren Küchentisch ein, ohne wieder aufzuwachen, vom Hunger geschwächt, von Krankheiten und Seuchen gezeichnet, entkräftet von körperlicher Schwerstarbeit in den Munitionsfabriken oder beim Schanzenbau, ausgedörrt oder durchfroren, Frauen, Männer, Kinder, Greise. Und doch: Kinos, Theater, Konzertsäle und Bibliotheken blieben geöffnet.

Keine Leningrader Familie, die nicht Opfer zu beklagen hatte. Zahllose Familien wurden gänzlich ausgelöscht, sagt Leonid Berezin, der mich mit Maria bekannt gemacht hat. Beide gehören zu den Blokadniki, wie sich die überlebenden »Kinder« der Blockade nennen. »Wir waren eher bereit, im Bombenhagel oder Hungers zu sterben, als uns zu ergeben«, betont Leonid, der zu Beginn der Blockade zwölf Lenze zählte.

Eine Viertelmillion Leningrader starben allein im ersten Blockadewinter. Zum barbarischen Aggressor gesellt sich als gnadenloser Feind bitterste Kälte. Der zugefrorene Ladogasee bleibt die einzige Verbindung zum Hinterland, über die Lebensmittel und Waffen in die Stadt gelangen und vor allem Frauen und Kinder evakuiert werden: »Doroga schisni«, Straße des Lebens, wird sie bald genannt. Doch auch die über das Eis gleitenden Lastwagen und Pferdeschlitten, ebenso wie die im Frühjahr und Sommer über das Gewässer schippernden Kähne sind unter Dauerbeschuss deutscher Flieger.

Als Maria mir ihre Beobachtung an jenen strengen Wintertage 1942 mit minus 40 Grad berichtet, muss ich an Tanja Savitschewa denken. Die Elfjährige hat in einem kleinen Notizbuch das Sterben in ihrer Familie festgehalten. Neun Seiten, auf denen in kindlich-ungelenker Schrift Namen, Datum und Uhrzeit niedergeschrieben sind: »Schenja starb am 28. Dezember um 12.00 vormittags 1941. Babuschka starb am 25. Januar, 3 Uhr nachmittags 1942. Ljoscha starb am 17. März um 5 Uhr vormittags 1942. Onkel Wasja starb am 13. April um 2 Uhr nach Mitternacht 1942. Onkel Ljoscha am 10. Mai um 4 Uhr nachmittags 1942. Mutter am 13. Mai um 7.30 vormittags 1942. Die Sawitschews sind tot. Alle sind tot.« Und auf dem letzten beschriebenen Blatt ist zu lesen: »Ostalas odna Tanja.« Nur Tanja ist übrig geblieben. Das Mädchen stirbt am 1. Juli 1944 im Alter von 14 Jahren. Ihr Tagebuch wird von der sowjetischen Anklage im Nürnberger Tribunal gegen die Nazi- und Hauptkriegsverbrecher eingebracht. Tanjas Notizblock kannten wie das Tagebuch der Anne Frank in der DDR bereits Schulkinder. Und heute?

»Goworit Leningrad« – Hier spricht Leningrad: Mehrmals täglich dringt die Stimme von Olga Fjodorowna Bergholz über den Äther, per Rundfunkgerät und Lautsprechern auf öffentlichen Plätzen zu den Eingeschlossen, um ihnen Mut zu machen. Auch wenn die Nachrichten von der Front lange Zeit, bis zur Schlacht um Stalingrad, nichts Gutes verheißen, keine Hoffnungen wecken können. Die Einschläge von Fliegerbomben und ununterbrochener Artilleriebeschuss der Wehrmacht können die junge Frau, Tochter eines Arztes deutscher Herkunft, in den Jahren des Großen Terrors kurzzeitig verhaftet, nicht von ihrem Platz am Mikrofon jagen. 1942 verfasst die angehende Dichterin als Hommage an ihre darbenden Landsleute das »Leningrader Poem«. Vier Jahre später erscheinen ihre Erinnerungen und Rundfunkansprachen unter dem Titel »Goworit Leningrad«; das Buch wird jedoch alsbald eingezogen und verboten, weil es nicht dem von Stalin verordneten Heldenepos entspricht.

Ihrem Ansehen, der Dankbarkeit der Menschen ihr gegenüber tut dies keinen Abbruch. Sie war, ist und bleibt eine Legende – ähnlich Juri Lewitan, der seit dem 22. Juni 1941, dem Tag des Überfalls Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion, die Nachrichten des staatlichen Rundfunks mit den Worten beginnt: »Bnimanije, goworit Moskwa« – Achtung, hier spricht Moskau. Und dies auch, nachdem der Sender angesichts der bedrohlich auf die Hauptstadt zumarschierenden deutschen Armee nach Jekaterinburg umgesiedelt wird, um 1943 nach Kuibyschew (heute Samara) weiterzuziehen.

Auch an Trinkwasser mangelte es den Leningradern.
Auch an Trinkwasser mangelte es den Leningradern.

Bekleidet mit einem Feuerwehrschutzanzug sitzt ein Mann im Dachgestühl des Leningrader Konservatoriums, über einen Schreibtisch gebeugt, und zaubert Noten aufs Papier. Tage- und nächtelang, jederzeit bereit, die Arbeit zu unterbrechen, um seinen Dienst beim Löschen von Bränden zu versehen. Der Komponist verweigert sich der Aufforderung, die Stadt zu verlassen. Letztlich muss sich Dmitri Schostakowitsch beugen: Nachdem er die ersten drei Sätze seiner Siebten Symphonie komplett hat, wird er mit seiner Familie nach Kuibyschew ausgeflogen, wo er das Werk vollendet. In der fernen Stadt an der Wolga erlebt er am 5. März 1942 dessen Uraufführung, intoniert vom ebenfalls evakuierten Orchester des Bolschoi-Theaters. Wenige Tage später erklingt die Symphonie, die man die »Leningrader« nennen wird, in Moskau, ungeachtet schriller Sirenen, die Luftalarm geben. Schon im Sommer des Jahres wird sie in London und New York gespielt.

Am 7. Oktober 1941 verkündete Hitler: »Leningrad muss ausgehungert werden.« Das Rundfunk-Sinfonieorchester der Stadt, die der Diktator in Berlin zunächst einnehmen wollte, antwortet trotzig mit der »Neunten« des deutschen Komponisten Ludwig van Beethoven. Das Konzert am 8. November wird live auch von der BBC übertragen. Und der britische Premier Winston Churchill wird später in seiner mit dem Literaturnobelpreis gekürten »Geschichte des Zweiten Weltkrieges« dem unbeirrten Widerstand der Sowjetvölker gegen einen übermächtigen, heimtückischen Feind seine Hochachtung zollen.

»Gorod geroi« – Heldenstadt. Diesen Ehrentitel erhalten nach der Befreiung vom Faschismus zwölf sowjetische Städte sowie die Festung Brest, deren Besatzung, 9000 Rotarmisten, sieben Tage lang, vom ersten Tag der Aggression bis zum 27. Juni den 17 000 Soldaten einer deutschen Infanteriedivision erbitterte Gegenwehr leisteten. Mögen manche Heldenstädte in den postsowjetischen Staaten sich heute nicht mehr in kyrillischen Buchstaben ausweisen, etwa Odessa am Schwarzen Meer, so sind deren Verteidiger und die Opfer der Zivilbevölkerung während des »Großen Vaterländischen Krieges« auch dort nicht vergessen, werden ebenso geehrt wie in Moskau, Leningrad, Sewastopol und Wolgograd.

Das Leiden und Sterben der Leningrader ist mit dem 27. Januar 1944, der Aufbrechung der Blockade nicht beendet. Andernorts ebenso wenig. Zigtausende lassen ihr Leben noch hernach, nicht nur als Angehörige der Roten Armee an der westwärts, Kilometer für Kilometer auf die deutsche Hauptstadt zurollenden Front. Sie erliegen auch den Folgen des offen erklärten Vernichtungsfeldzugs der Nazis gegen die »jüdisch-bolschewistischen, slawischen Untermenschen«, wie Goebbels’ Propaganda tönte. Eines angekündigten Völkermordes.

Am 27. Januar 1945 erreicht die Rote Armee Auschwitz, Synonym für den sechsmillionenfachen Mord an den Juden. Die Zahl der in diesem deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager Ermordeten wird auf eine bis anderthalb Millionen beziffert. Die Opfer der Völker der ehemaligen UdSSR schätzt man auf 27 Millionen. Über eine Million Menschen starben allein während der Blockade in Leningrad.

Die Sterbechronik der Tanja Sawitschewa
Die Sterbechronik der Tanja Sawitschewa

Maria und Leonid sind Anfang der 90er Jahre mit ihren Familien nach Deutschland übergesiedelt. Verzeihen können sie die ihnen und ihren Familien im deutschen Namen angetanen Schrecken und Schmerzen nicht. Den Vorwurf einer Kollektivschuld erheben sie nicht. Natürlich gab es unter den Siegern, den Soldaten wie auch der Bevölkerung der Sowjetunion, Hass auf die »Njemzi«. Ein halbes Jahrzehnt später indes reisen die ersten jungen Deutschen in die UdSSR, eingeladen zum Studium.

Der Berliner Historiker Gerd Kaiser, der in den 50er Jahren in Moskau Geschichte studierte und etliche historische Beiträge für diese Zeitung verfasst hat, erinnert sich: »Zu meinen Zimmergenossen in der Obschschitje, im Studentenheim, gehörte ein Belorusse, der nach einer Kopfverletzung auf einem Auge erblindet war. Ein Este konnte nur einen Arm eingeschränkt nutzen. Und bei einem Russen war deutlich eine riesige Narbe auf dem Kopf zu sehen, sie stammte von einem deutschen Bajonett. Manche trugen auch noch ihre verblichenen, abgewetzten Uniformjacken und Mäntel der Roten Armee.« Die Mutter der Verfasserin dieser Zeilen wiederum sprach stets mit großem Respekt über ihre Germanistikprofessorin in Leningrad, die Goethe und Heine auswendig rezitierte und ihr empfahl, ihre Diplomarbeit über den deutschen Publizisten Carl von Ossietzky zu schreiben.

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Auf die doppelte Bedeutung des 27. Januar, Befreiung von Leningrad und Auschwitz, verweist eine am Freitag von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) veröffentlichte Erklärung, die den Umgang der Bundesregierung mit den Überlebenden des deutschen Eroberungs- und Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion als »skandalös« beklagt. Im Herbst vergangenen Jahres hatten sich Überlebende der Leningrader Blockade, mittlerweile weniger als 60 000, in einem offenen Brief an Berlin mit der Bitte gewandt, die jüdischen Überlebenden zugesagte Entschädigung »auf alle heute noch lebenden Blockade-Opfer ohne Ansehen ihrer ethnischen Zugehörigkeit auszuweiten«. In den deutsch-faschistischen Hungermordplänen waren »keine Ausnahmen aufgrund von Nationalität« vorgesehen. Eine Antwort steht noch aus.

Es benötigte über vier Jahrzehnte, bis die Verbrechen der Wehrmacht in der Bundesrepublik aufgedeckt, publik gemacht wurden. Sollen noch einmal 40 Jahre vergehen, bis es keine Überlebenden des deutsch-faschistischen Eroberungs- und Vernichtungskrieges im Osten mehr gibt?

Lesen Sie am Montag die Rede des russischen Schriftstellers Daniil Granin vor zehn Jahren im Deutschen Bundestag.

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