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Schlechte Betriebszeiten für Meisterwerke

Über »Written on Skin« von Sir George Benjamin und Martin Crimp an der Deutschen Oper Berlin

  • Maximilian Schäffer
  • Lesedauer: 4 Min.
Der fiese »Protector« und der begabte »Boy« machen sich Gedanken über Bilder. »Die Frau« schaut zu und schweigt. Es herrscht: Langeweile
Der fiese »Protector« und der begabte »Boy« machen sich Gedanken über Bilder. »Die Frau« schaut zu und schweigt. Es herrscht: Langeweile

Im Duden lernt man: »modernistisch. Adjektiv. Bedeutung: sich modern geben. Gebrauch: oft abwertend«. An der Deutschen Oper Berlin feierte vergangenen Samstag, den 27.1.2024, eine Arbeit aus dem Jahr 2012 Premiere. »Written on Skin« des englischen modernistischen Komponisten George Benjamin (64), einst Lieblingsschüler von Olivier Messiaen, wurde vor elfeinhalb Jahren auf dem sommerlichen Open-Air-Festival im südfranzösischen Aix-en-Provence uraufgeführt. Das Libretto zu Benjamins erster großer Oper verfasste Martin Crimp, modernistischer Dramatiker, auf Grundlage mittelalterlicher Grausamkeiten. »Das verspeiste Herz« des katalanischen Troubadours Wilhelm von Cabestany sowie das »Decameron« des Giovanni Boccaccio sollen den gut 90 Minuten SM-Fiebertraum zugrunde liegen. Ein bisserl historische Rechtfertigung macht jedes modernistische Schlachthaus zum feinsinnigen Parabeltheater.

Wesentlich geht es um ein Eifersuchtsdrama zwischen »the Woman« Agnès (Georgia Jarman, Sopran), ihrem Mann dem »Protector« (Marc Stone, Bariton) und dem »Boy« (Aryeh Nussbaum Cohen, Countertenor), einem knabenhaften Buchillustrator. Letzterer bekommt den Auftrag auf das einst wertvollste aller Dokumentmaterialien – also Pergament, getrocknete Tierhaut – einen Lobgesang auf das Leben seines Bestellers zu gestalten. Heraus kommt ein Bilderbuch reich an Gräueltaten gegenüber Freunden und Feinden, was dem Protector dann doch zu unschmeichelhaft nah an der Realität ist. Sein Weib – er nennt und besitzt es faktisch so – schwärmt währendessen für den feinsinnigen Künstler. Totale Unterordnung bekommt dem Menschen sexuell nur für sehr begrenzte Zeit. Sie sehnt sich nach zarten Küssen, wahrer Begierde. Und bekommt sie. Das geht, selbstredend, schlecht aus.

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Die Originalinszenierung, mehr provinziell als provenzalisch, hat sich Berlin eingekauft. Man darf sich fragen, wieso? Wurde »Written on Skin« doch bereits als Koproduktion in Detmold-Stockholm und in Philadelphia aktualisiert, muss nicht aussehen wie Ikea-Eurotrash und Baum-im-Wohnzimmer aus der vergangenen, langweiligsten aller Dekaden Bühnenbild. Katie Mitchell zeichnet für die Regie verantwortlich, regelmäßige Komplizin des Librettisten und beliebte Fachfrau für domestische Langeweile auf der (Schau-)Bühne. Man kennt sich und empfiehlt sich allerseits. Im Zimmerchen, einziger Aktionsraum der Handlung, herrscht ein diffuses 13. Jahrhundert in vergilbtem Papierbeige, es wachsen Kupferrohre und ein dürres Gehölz aus dem Boden. Drei Viertel der Bühne jedoch werden für rein dekorative Zwecke gebraucht. Während über die Bettstatt hinaus die Äste ins nächste Stockwerk wuchern, ist die linke Seite in Großraumbüroästhetik gehalten. Schwarz und Weiß, Schreibtischlampen, Plastikboxen für Aktenordner, usw. Wenn sie nicht gefragt sind, bewegen sich die geparkten Figuren dort in Zeitlupe. Das hat keinen entschlüsselbaren Sinn, macht aber cineastischen Eindruck.

Mehrere Sänger haben mehrere Rollen. Der Boy und zwei fleischliche Nebenfiguren sind gleichzeitig auch Engel. Sie ziehen sich zu diesem Zweck im kontemporären Bereich des Bühnenbilds Kleidung aus dem 21. Jahrhundert an. Nur Fußballtrikots mit der Aufschrift »Jetzt Engel 3« wären noch eingängiger gewesen. Cherubim und Seraphinen verweisen auf alles heimlich Gewünschte und Unterdrückte, die Musik aber verweist nur auf sich selbst, aufs Modernistische. Zwei Akte lang herrscht Katatonie, ein Krampf, die unbehagliche Gleichförmigkeit jeder chromatischen Nachkriegskomposition. Es säuselt und kreischt über Streicher- und Bläsereinsätze, die Perkussion darf klickern und klackern. Das hat man alles schon so gehört, instrumental bei Pierre Boulez, vokal bei Alban Berg und motivisch bei Hans Werner Henze. Texter Crimp versucht sich spürbar am Infernalischen des letztgenannten, an den zugehörigen Libretti von Ernst Schnabel und W.H. Auden, wenn auf der Bühne ein menschliches Herz verspeist wird. Komponist Benjamin unterstreicht die delikateste Szene seines Musiktheaters mit filmmusikalischer Dynamik. Das Auditorium, schläft es nicht schon, muss einmal aufhorchen.

Gemein ist, wenn ein jeder gleich weiß, was gemeint ist, wenn man eine Oper »modernistisch« schimpft: Eine Epoche, die in ihrer Berechenbarkeit sich selbst zum Genre geworden ist. Eine, die versucht sich Meisterwerke zu schaffen, die ihren eigenbrötlerischen Handbetrieb selbst transzendental aufwerten. Schönschrift mit Blut und Kalligraphie auf Haut. Unterdrückte Frau und schwuler Kuss als Vorwände für Themen einer Gesellschaft, dazu »Einkaufszentrum« und »Flughafen« im Libretto fürs gute Gewissen ein Publikum erwähnt zu haben.

Wer erinnert sich? Detlev Glanerts Auftragskomposition »Oceane« wurde 2019 an der Deutschen Oper uraufgeführt. Hier gab es das 19. Jahrhundert zu erleben. Fontane auf Strauss. Glänzende Kritiken. Bisher noch ein Mal erfolgreich verkauft. Im vorletzten Jahr nach Bremerhaven.

Nächste Vorstellungen: 1.2., 5.2., 9.2., 15.2.

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