Für den Lehrermangel blinde Bürokratie

Dem sehbehinderten Paul Messall wird das Referendariat an einer Berliner Grundschule verwehrt

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 5 Min.

Am 2. April endet die nächste Bewerbungsfrist für ein Referendariat an einer Berliner Grundschule. Paul Messall will es noch ein letztes Mal probieren. Schon seit Mai 2022 versucht er es immer wieder. Wenn er diesmal erneut abgelehnt wird, will der 26-Jährige aufgeben und seinen Job in der Elektromobilitätsbranche behalten.

Dann hätte das Land Berlin einen jungen Lehrer verloren, den es doch eigentlich dringend benötigen würde. Denn wie die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) bestätigt, gibt es in diesem Sektor weniger Bewerber für ein Referendariat als Plätze dafür vorhanden sind. Das stützt Messalls verwunderte Aussage: »Ich würde niemandem etwas wegnehmen.«

Der Fall ist besonders tragisch, weil für die Grundschulen dringend männliche Lehrer gesucht werden. Die meisten Lehrkräfte dort sind traditionell weiblich. In der Erziehungswissenschaft wird die Tatsache, dass Jungen im Durchschnitt schlechtere Lernergebnisse vorweisen können als Mädchen, unter anderem damit erklärt, dass den Jungen an den Grundschulen männliche Lehrkräfte als Bezugspersonen fehlen.

Und noch eins: Messall hätte überhaupt nichts dagegen einzuwenden, an einer Schule in einem sozialen Brennpunkt eingesetzt zu werden. »Ich weiß: Das ist anstrengender«, bekennt er. »Das ist eine Herausforderung. Aber die würde ich annehmen.« Er habe es selbst als Kind nicht leicht gehabt und hege deswegen keine Vorurteile gegen Kinder aus schwierigen Verhältnissen, versichert der sympathische Lockenkopf.

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Aber Pech gehabt: Die Senatsbildungsverwaltung würde den 26-Jährigen ja durchaus gern einstellen. Doch die geltenden Regeln verbieten das. Warum? Messall stammt ursprünglich aus Mecklenburg. In Hessen hat er an der Universität Kassel ein Lehrerstudium für die Fächer Deutsch und Geschichte absolviert und es mit dem Prädikat »gut« abgeschlossen. Allerdings für Haupt- und Realschulen. Die gibt es so in Berlin schon lange nicht mehr. Hier sind sie bereits im Jahr 2009 zusammengeführt worden. Wir haben es nun in der Hauptstadt mit sogenannten Integrierten Sekundarschulen zu tun. An einer solchen Sekundarschule dürfte Paul Messall sein Referendariat machen und damit seine Ausbildung für den Lehrerberuf vollenden. Auch für ein Gymnasium würde ihn die Senatsbildungsverwaltung nehmen.

Er will aber das eine wie das andere nicht – weil er es nicht schaffen würde, wie er bedauert. Denn Messall ist schwer sehbehindert. Er kann mit Kreide an eine klassische Schultafel schreiben. Er kann auch kurze Diktate von Grundschülern korrigieren. Er kann aber zum Beispiel auf einem Bahnhof auf den Anzeigetafeln nicht erkennen, welche Züge gerade einfahren. Ebenso wenig könnte er die mehrseitigen Aufsätze von älteren Schülern lesen, wenn er 35 Schüler pro Klasse hätte und gleich mehrere Klassen in Deutsch unterrichten würde. Das wäre einfach zu anstrengend für seine Augen, befürchtet Paul Messall. Er würde sich sogar dem Risiko aussetzen, dass seine Netzhaut reißt.

Darum möchte Messall unbedingt an eine Grundschule. Der Witz dabei: Während seines Studiums hat Messall bereits vor allem fünfte und sechste Klassen an Realschulen in Hessen unterrichtet. In diesem Bundesland geht die Grundschule nur bis zur vierten Klassenstufe, in Berlin aber bis zur sechsten.

Doch alle Argumente verfangen nicht beim Bildungssenat. »Die Absolvierung des Vorbereitungsdienstes für das Lehramt an Grundschulen ist daher für Sie ausgeschlossen«, heißt es zusammenfassend in einer erneuten Absage, die dem »nd« vorliegt und in der Paul Messall im April vergangenen Jahres noch einmal die bürokratischen Hindernisse erläutert worden sind, die sich unüberwindlich für ihn auftürmen. »Ich bedauere sehr, Ihnen keine positive Mittelung machen zu können«, steht dort geschrieben. »Ich empfehle Ihnen, Ihre Ausbildung im Bundesland Hessen zu beenden. Im Anschluss ist eine Tätigkeit im Berliner Schuldienst grundsätzlich möglich.«

Das Absurde dabei: Danach wäre problemlos ein Einsatz in einer Grundschule möglich. Nicht wenige Lehrer an Berliner Grundschulen sind eigentlich für weiterführende Schulen ausgebildet. Sie haben es sich im Laufe ihres Berufslebens anders überlegt und sind gewechselt. Wer das will, kann das machen.

»Trotzdem wäre es natürlich viel besser, wenn auch das Referendariat dann schon im Grundschullehramt absolviert wird«, meint Markus Hanisch, Geschäftsführer und Pressesprecher der Berliner GEW. Aufgrund des großen Einstellungsbedarfs in den Grundschulen fordere die Gewerkschaft schon lange, dass Absolventen, die nicht für die Grundschule studiert haben, ihr Referendariat auf Wunsch trotzdem dort machen dürfen. »Das lehnt die Senatsverwaltung immer wieder mit Verweis auf Regelungen der Kultusministerkonferenz ab«, sagt Hanisch.

Bildung ist in der Bundesrepublik Ländersache. In der Kultusministerkonferenz stimmen sich die jeweiligen Bildungsminister miteinander ab. Der Fall Messall ist kein Einzelfall. Die Berliner GEW erhält immer wieder derartige Anfragen.

Auch Paul Messall hat sich in seiner Sache an die GEW gewandt und ebenso zum Beispiel auch an die SPD-Fraktion und die Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus. »Der vorliegende Fall des Lehramtsabsolventen macht deutlich, dass es dringend mehr Flexibilität und großzügige Härtefallregelungen braucht und der Senat die Regelungen zum Zugang und zur Weiterqualifizierung für Lehrkräfte anpassen muss, sodass deutlich mehr Menschen für den Lehrkräfteberuf gewonnen werden können«, sagt die Abgeordnete Franziska Brychcy (Linke). Ihr zufolge waren in Berlin Anfang Oktober offiziell 716 Stellen offen. Nach Brychcys Rechnung fehlten in den Klassenzimmern aber sogar 986 Lehrkräfte. Angesichts dieses Mangels, der an Grundschulen besonders dramatisch sei, spreche sich die Linkspartei für Ausnahmeregelungen aus. Das Referendariat an Grundschulen sollte übergangsweise für Bewerber wie Paul Messall geöffnet werden.

Der 26-Jährige darf sich noch Hoffnungen machen. Denn Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) habe »losgelöst von diesem Einzelfall bereits einen allgemeinen Prüfauftrag ausgelöst, inwieweit es rechtlich zulässig ist, trotz eines Studiums für die weiterführenden Schulen ein Referendariat an einer Grundschule absolvieren zu können«, erklärt ihr Pressesprecher Martin Klesmann. Für die Senatorin habe oberste Priorität, »qualifizierte Lehrkräfte für Berlin zu gewinnen«.

Schließlich unterrichten in der Hauptstadt immer mehr Quer- und Seiteneinsteiger, die wesentlich schlechter für diese Aufgabe gerüstet sind, als es ein Paul Messall wäre, der an der Universität mit Pädagogik und Didaktik vertraut gemacht wurde.

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