GEW im Klassenkampf

Lehrkräfte in Berlin und Brandenburg wehren sich gegen unzumutbare Verhältnisse

  • Andreas Fritsche und Marten Brehmer
  • Lesedauer: 4 Min.
Frieren für kleinere Klassen: Streikende Lehrkräfte am Dienstag
Frieren für kleinere Klassen: Streikende Lehrkräfte am Dienstag

»Mehr Arbeit, größere Klassen – das ist eine Provokation«, sagt Günther Fuchs über Diskussionen, in Teilzeit arbeitende Lehrer zur Vollzeit zu zwingen oder die Zahl der abzuleistenden Pflichtstunden heraufzusetzen. Günther Fuchs, Landesvorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Brandenburg, erklärt am Dienstag in Potsdam, dass er mit Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) über Lösungen für den riesigen Lehrkräftemangel verhandeln möchte. Gespräche allein mit Bildungsministerin Britta Ernst (SPD) bringen seiner Erfahrung nach wenig, weil hier ein »Kraftakt der gesamten Landesregierung« erforderlich sei.

Nach Angaben von Fuchs teilen sich im Bundesland 24 000 Kollegen die vorhandenen 22 000 Lehrerstellen. Nur sechs Prozentpunkte seien noch Luft nach oben, wenn sämtliche Kollegen in Vollzeit arbeiten würden. Hier ist also nicht viel zu holen, um den Lehrermangel einzudämmen. Das Bildungsministerium könnte allerdings die Zahl der Pflichtstunden pro Lehrer heraufsetzen. Solange das nicht passiert, ist der GEW-Chef noch bereit für Verhandlungen. 27 Stunden pro Woche muss derzeit ein Vollzeitlehrer an Grundschulen in Brandenburg unterrichten, an den weiterführenden Schulen sind es 25 Pflichtstunden pro Woche.

Das ist für Fuchs das Limit. Eigentlich wünscht er sich aber eine deutliche Absenkung der Pflichtstundenzahl für ältere Lehrer. Denn 70 Prozent von ihnen treten gegenwärtig bereits mit 63 Jahren in den Ruhestand und nehmen dafür Abschläge bei ihrer Pension hin – »weil sie ausgebrannt sind«, wie Fuchs sagt. Würde man sie entlasten, blieben sie vielleicht freiwillig länger im Dienst. »Allein in den nächsten zehn Jahren werden zirka 12 500 Lehrkräfte aus dem aktiven Schuldienst aus Altersgründen ausscheiden.«

Den zusätzlichen Lehrerbedarf durch ukrainische Flüchtlingskinder eingerechnet und ebenso den Bedarf der Privatschulen, müsste Brandenburg pro Jahr mehr als 2000 neue Kollegen bekommen, rechnet der Gewerkschafter vor. An der Universität Potsdam gibt es aber lediglich 1000 Studienplätze, von denen sogar nur 750 besetzt sind. Wenn der Schuldienst durch noch höhere Arbeitsbelastung und noch größere Klassen unattraktiv werde, würde dies schwerlich mehr Studenten und mehr Seiteneinsteiger anlocken, die man aber dringend benötige. Empfohlen werden in Brandenburg Grundschulklassen mit maximal 31 Kindern, was nicht heißt, dass es nicht auch mehr sein können. Nach Einschätzung von Fuchs sind die Klassen für einen vernünftigen Unterricht schon jetzt zu groß. Indes sagt Mathias Iffert, kommissarischer Direktor des Landesinstituts für Schule und Medien, am Dienstag: »Der Schuldienst im Land Brandenburg ist attraktiv und bietet Lehrkräften sehr gute Rahmenbedingungen.«

In Berlin beteiligten sich am Dienstag nach GEW-Angaben »über 4000 Lehrkräfte, Sozialpädagog*innen und Schulpsycholog*innen« an einem Warnstreik für kleinere Klassen. Die Bildungsverwaltung sprach hingegen von 3150 Streikenden. Damit lag die Beteiligung deutlich höher als beim letzten Warnstreik im Dezember, an dem sich zwischen 1800 und 2500 Lehrkräfte beteiligt hatten. Es ist bereits der achte Warnstreik seit Sommer 2021. In der Woche vor der Wiederholungswahl zum Abgeordnetenhaus dauert der Ausstand erstmals zwei Tage an. Mit einer Demonstration am S-Bahnhof Friedrichstraße unterstrich die Gewerkschaft ihre Forderungen. Nach GEW-Angaben beteiligten sich hier 4000 Teilnehmer. Am Mittwoch sollen dezentrale Aktionen in den Bezirken folgen.

Im Zentrum der Forderungen steht ein Tarifvertrag Gesundheitsschutz. Mit diesem sollen die Klassengrößen reguliert, deutlich reduziert und die Lehrkräfte entlastet werden. »Wir wollen mit dem Senat über Arbeitsbedingungen verhandeln, die nicht krank machen«, sagt Anne Albers, Leiterin des Vorstandsbereichs Tarifpolitik bei der GEW. Krankenstand und Teilzeitquote zeugten von den schlechten Arbeitsbedingungen.

Ob solche Verhandlungen überhaupt zustande kommen, ist aber auch anderthalb Jahre nach dem ersten Warnstreik unwahrscheinlich. Die für Tariffragen zuständige Finanzverwaltung unter Senator Daniel Wesener (Grüne) argumentiert, dass die Tarifgemeinschaft der Länder (TdL) Verhandlungen über den Tarifvertrag zustimmen müsste. Sollte ein solcher Tarifvertrag trotzdem eingeführt werden, würde Berlin der Ausschluss aus der TdL drohen. Neben der tarifpolitischen Dimension ist aber auch umstritten, ob es angesichts des in Berlin besonders gravierenden Lehrermangels möglich ist, die Klassengröße zu reduzieren.

»Gute Arbeitsbedingungen sind das wirksamste Mittel gegen den Lehrkräftemangel«, argumentiert dagegen GEW-Tarifexpertin Anne Albers und erinnert daran, dass die GEW einen Stufenplan vorsieht, mit dem »Schritt für Schritt« die Klassengrößen reduziert werden sollen. Der Berliner GEW-Landesvorsitzende Tom Erdmann verweist darauf, dass in den Wahlprogrammen der Koalitionsparteien kleinere Klassen gefordert werden. Mit dem Warnstreik wolle man die Parteien kurz vor der Wahl an diese Forderungen erinnern.

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