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Machtspiel auf Erdbebentrümmern
Ein Jahr nach dem verheerenden Erdbeben ist ein Großteil der südosttürkischen Provinz Hatay immer noch zerstört
Seit einem Jahr kämpfen die Menschen in der Provinz Hatay ums Überleben. Als am 6. Februar 2023 die Erde im Südosten der Türkei und im Norden Syriens bebte, zerstörten die Erdstöße nicht nur die Häuser, sondern alles, was einem Menschen das alltägliche Gefühl von Sicherheit gibt. Angehörige, Freund*innen, Lehrer*innen, Nachbar*innen wurden unter den Trümmern begraben, nur einige konnten gerettet werden. Vertraute Straßen und Plätze, Cafés, Geschäfte und andere Orte, an denen man sich begegnet, wurden zerstört. Nur wenige konnten bis heute wiederaufgebaut werden. Kurzum, es sind Welten eingestürzt. Was bleibt, ist das kollektive Trauma. Die Angst davor, dass die Türkei weitere schwere Erdbeben erwartet und das Wissen, dass viele Gebäude diesen nicht standhalten werden. Der 6. Februar war ein emotionaler Wendepunkt für viele Menschen in der Türkei.
Erst kürzlich korrigierte der türkische Innenminister Ali Yerlikaya die offizielle Zahl der verstorbenen Erdbebenopfer auf 53 537 nach oben. Die Zahl der Verletzten liegt demnach bei 107 213. Regierungskritiker*innen gehen jedoch von weitaus höheren Zahlen aus, auch weil viele Personen nicht als verstorben, sondern nur als vermisst registriert sind. Insgesamt seien 38 901 Gebäude zerstört worden. Über drei Millionen Menschen haben die Erdbebenregion verlassen, 14 Millionen seien direkt von den Erdbeben betroffen, so Yerlikaya.
Wer in der zerstörten Region geblieben ist, steht immer noch vor massiven Herausforderungen. Die Vereinigung der Architekten und Ingenieure der Türkei TMMOB hat vier vier große Problemfelder ausgemacht. So fehlen immer noch funktionierende Krankenhäuser und entsprechendes Personal. Und die Kliniken, die es gibt, haben Probleme. In das nach nur zwei Monaten Bauzeit Ende März 2023 überstürzt eröffnete Krankenhaus von Defne etwa dringt bei jedem Regen Wasser ein. Ähnlich sieht es im Bildungsbreich aus. Es mangelt an Schulgebäuden und Lehrer*innen, die dort unterichten könnten. Zumal es nicht genügend Unterkünfte für Lehrer*innen gibt. Die Schulgebäude, die nicht eingestürzt sind, wurden von Verwaltungs- und Regierungsinstitutionen besetzt.
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Das größte Problem jedoch ist nach wie vor die Unterbringung der Bevölkerung. Kurz nach den Erdbeben hatte Präsident Recep Tayyip Erdoğan versprochen, binnen Jahresfrist 320 000 neue Wohnungen fertigzustellen. Aktuell sind es gerade einmal 40 000. Wer obdachlos geworden ist, wohnt bis heute in Containern oder sogar noch in Zelten. Laut Innenminister Yerlikaya leben 691 000 Menschen unter diesen Bedingungen.
TMMOB bemängelt, dass durch Neuansiedlung die demografische Struktur auf problematische Weise stark verändert wurde. Seit Jahrhunderten ist Hatay von großer ethnischer, religiöser und kultureller Pluralität geprägt. Bereits vor dem Erdbeben versuchte die Zentralregierung in Ankara, die Region türkisch-sunnitisch zu vereinheitlichen. Umso größer ist nun die Gefahr, dass sich die Regierungspartei AKP die zerstörten lokalen Strukturen zum Vorteil macht und eine neue Stadt nach ihren Vorstellungen erbaut.
Die Menschen in Hatay wehren sich gegen den stärker werdenden Einfluss aus Ankara und wollen die Region, die für sie einmalig ist, um jeden Preis schützen. Im Projekt Hafıza Haritası, der Karte der Einnerung, sammeln sie interaktiv Fotos und Erinnerung aus Antakya, die Bewohner*innen und Besucher*innen vor dem Erdbeben gemacht haben. So schreibt eine Bewohnerin unter ein Foto, das Angler im Sonnenuntergang am Asi-Fluss zeigt: »Hier habe ich am Abend auf eine Freundin gewartet, mit der ich zusammen auf ein Konzert gehen wollte. Genau an dieser Stelle war immer unser Treffpunkt. An diesem Abend wurde ich klammheimlich ein Teil der aufgeregten Angler.« Andere teilen Fotos ihrer Sportvereine, ihrer Wohnungen und ihrer Grundschulhöfe. So individuell die Bilder sind, haben sie häufig doch eine gemeinsame Beschreibung: »Als ich dieses Foto aufnahm, habe ich nicht geahnt, dass es das letzte Mal sein wird, dass ich den Ort so erblicke.«
Der Verein nehna, der das Projekt initiiert hat, will mit Hafıza Haritası nicht nur die Erinnerungen an die Stadt Antakya konservieren, sondern auch die Richtung für den Wiederaufbau mitbestimmen. Festzuhalten, was einmal war, ist gerade für die christlich orthodoxe und alevitische Bevölkerung ein wichtiges Anliegen, denn ihre Existenz beruht auf dem permanenten Kampf gegen die staatliche Assimilationspolitik.
Das Erdbeben und die Erfahrungen aus der Zeit danach werden auch ein Thema bei den Ende März stattfindenden Lokalwahlen sein. Während gegen einzelne Bauherren zwar Gerichtsverfahren wegen Pfusch am Bau eingeleitet wurden, sind politische Funktionsträger bis heute unbehelligt geblieben. Lütfü Savaş, Bürgermeister der Provinz Hatay und Mitglied der Oppositionspartei CHP, stand nach den Beben massiv in der Kritik. Er habe von unsicher gebauten Häusern gewusst, war sogar zu Eröffnungszeremonien von Luxusapartments gekommen, die nur wenige Monate später in sich zusammenfielen. Doch Savaş hat nicht nur keine Konsequenzen gezogen, sondern plant nun sogar, sich für die Wiederwahl aufstellen zu lassen. Präsident Erdoğan drohte während eines Auftritts am 4. Februar in Hatay der Bevölkerung, sie werde weiterhin auf Hilfe verzichten müssen, wenn Rathaus und Zentralregierung nicht von der gleichen Partei regiert werden würden. Dass die AKP-Regierung und ihre Verbündeten den Willen der Wähler*innen aus dem Erdbebengebiet ignorieren, zeigten bereits die Parlamentswahlen im Mai: Damals erhielt Can Atalay, ein linker Anwalt, das Mandat aus Hatay für die türkische Arbeiterpartei TİP. Er konnte jedoch wegen einer unrechtmäßigen Haftstrafe, die vom Verfassungsgericht folgenlos kassiert wurde, nicht ins Parlament einziehen. Vergangene Woche wurde ihm nun durch die Regierungsmehrheit der AKP und ihrer Verbündeten im Parlament auch das Mandat entzogen. Für die Bevölkerung und die Erdbebenopfer in Hatay ist das eine Missachtung ihres demokratischen Mitbestimmungsrechts. Gleichzeitig drückt es die Politik der Regierung gegenüber dieser Region noch einmal symbolisch aus: Verachtung.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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