Eine fremde Stadt in einem fremden Land

Am 5. Februar starb Helga Paris, Chronistin einer untergegangenen Welt

  • Matthias Reichelt
  • Lesedauer: 4 Min.
Helga Paris, »Winsstraße mit Taube«, 70er Jahre. Aus der Serie »Berlin 1974–82«
Helga Paris, »Winsstraße mit Taube«, 70er Jahre. Aus der Serie »Berlin 1974–82«

Als Helga Paris am 7. September 2019 zur Eröffnung ihrer Einzelausstellung in der Akademie der Künste Berlin am Pariser Platz ans Mikrofon trat, wirkte sie zerbrechlich. Einige machten sich da bereits Sorgen um die damals weit über die Landesgrenzen hinaus bekannte Fotografin. Gleichwohl lachte sie, war sichtlich erfreut über den großen Publikumsansturm und so sanft und freundlich, wie sie von vielen Freunden und Verehrern schon immer beschrieben worden war. Mit dieser wahrscheinlich größten Einzelausstellung mit 275 Fotos in vier Sälen der Akademie, der sie seit 1996 als Mitglied angehörte und der sie ihr Werk im Vorlass vermacht hatte, wurde ihr noch einmal der ganz große Bahnhof bereitet. Der Kern von Helga Paris’ Fotografie besteht aus Porträts von Menschen ihrer Umgebung. Zudem machte sie Straßenfotografie und Bilder, mit denen sie die beschwerliche Arbeit von Berufsgruppen wie den Müllfahrern und den Textilarbeiterinnen dokumentierte. Letztlich sind ihre Fotografien Zeugnisse einer untergegangenen Welt, denn nicht nur die DDR ist verschwunden, sondern mit dieser auch die Menschen der diversen Milieus, die es in Ostberlin und anderen ostdeutschen Städten gab. Sie sind längst tot oder aufgrund von Restitution und Gentrifizierung aus ihren Kiezen vertrieben worden.

Helga Paris wurde am 21. Mai 1938 in Gollnow, Pommern, als Helga Steffens geboren, wuchs in Zossen auf und nahm später den Nachnamen ihres Mannes an, des Malers Ronald Paris. Von 1956 bis 1960 studierte sie Modegestaltung an der Fachschule für Bekleidung in Berlin und absolvierte ein Praktikum im VEB Treffmodelle zur Herstellung von Mänteln. Anschließend arbeitete sie als Dozentin für Kostümkunde und als Gebrauchsgrafikerin. In diesen Berufsfeldern spielte die Fotografie immer eine Rolle, doch Helga Paris erlernte den Umgang mit dem Medium Mitte der 60er Jahre autodidaktisch. Sie arbeitete auch ein paar Jahre als Fotolaborantin, womit sie alle notwendigen Kenntnise für ihre selbstbestimmte Fotografie zusammenhatte. Anfangs war es wohl vor allem das Interesse, die eigene Familie und das Aufwachsen der Kinder zu dokumentieren, erinnert sich der Fotograf und Verleger Hansgert Lambers, der mit Paris befreundet war und das Buch »DDR. Frauen fotografieren« 1989 in seinem Ex-Pose-Verlag publizierte. Darin waren natürlich auch Fotografien von Helga Paris enthalten.

Paris’ Radius hatte sich allmählich über die Familie hinaus erweitert. Hinzu kamen die Nachbarn und die unmittelbare Umgebung in der Winsstraße, wo sie samt Mann und den zwei Kindern Robert und Jenny wohnte. Die Gegend des Prenzlauer Bergs war vor allem durch ein proletarisches Milieu geprägt, das Paris ablichtete; sie fotografierte auch in den Arbeiterkneipen eine Serie. Nebenbei hielt sie Kontakt zur Künstlerszene und fotografierte zum Beispiel die Malerin Nuria Quevedo sowie Autorinnen wie Christa Wolf und Elke Erb.

1970 wagte Paris den Schritt in die Freiberuflichkeit als Fotografin. Bühnenfotografie bei Inszenierungen von Benno Besson, Fotoserien in Georgien, Polen und auch eine kritische Bestandsaufnahme in Halle über den Zustand der Stadt, worüber die Partei- und Stadtoberen nicht amüsiert waren. Ihr Ansatz dabei war, »Halle so zu fotografieren wie eine fremde Stadt in einem fremden Land – Versuch, alles, was ich wissen und verstehen könnte, zu vergessen. So, als hätte ich beispielsweise in Rom fotografiert«. Die Bilder durften dann doch nicht ausgestellt oder publiziert werden, es wäre für die politisch Verantwortlichen einem Offenbarungseid gleichgekommen.

Als Ende der 70er Jahre die Punks in Ostberlin in Erscheinung traten, hatte Paris zuerst Angst vor deren martialischer Aufmachung, wie sie in einem Interview mit dem Deutschlandradio 2019 erzählte. Die Brücke zu dieser rebellischen Popkultur schlugen dann ihre Kinder, die davon begeistert waren und Punk-Freunde nach Hause brachten. So entstanden auch von ihnen wunderbare Porträts. Paris zeigte sich in einem Interview sichtlich berührt über die Höflichkeit eines Punks, den sie in ihrer Wohnung porträtierte. Er hielt eine Hand unter seine brennende Kippe, damit ja keine Asche auf den Boden fiel.

Die Autorin Annett Gröschner bescheinigt Helga Paris’ Porträts, dass sie nicht nur die abgebildete Person zeigen, sondern sie selbst sich in deren Blicken spiegelt. »Man sieht in den Augen der Fotografierten Vertrautheit, nie Hochmütigkeit oder Herablassung, Helga Paris hat die Kraft, die sie hatte, nie als Macht missbraucht. Niemand wurde aufgefordert, doch mal zu lachen«, sagt Gröschner. Größer kann ein Kompliment kaum sein. Und tatsächlich waren Paris’ Freundlichkeit und offene und neugierige Art der Schlüssel zu den Menschen, die sie mit ihrer Kamera einfing. Mit dieser Art muss es ihr auch gelungen sein, im nicht ungefährlichen Bahnhofsmilieu Roms zu fotografieren.

Eine stimmungsvolle Fotografie von der diesigen Winsstraße gelang Helga Paris 1970. Darauf zu sehen: das Ladenschild »Werner Wendt. Hutformen Modellbau«, ein paar wenige Passanten, geparkte Trabis und eine mittig die Straße entlang fliegende Taube. Das Bild entstand am Anfang der Karriere und es zeugt von einem großartigen Gespür für den richtigen Augenblick. Eben dort, in ihrer Wohnung in der Winsstraße, ist die großartige Chronistin einer verschwundenen Welt am Montag, den 5. Februar 2024, mit 85 Jahren gestorben.

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