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Emigraternas Självhälp

Helmut Müssener und Michael F. Scholz über eine jüdische Selbsthilfeorganisation

  • Andreas Herbst
  • Lesedauer: 3 Min.

Es wir kaum noch einer mehr etwas mit dem Namen Emigraternas Självhälp verbinden. So hieß eine 1938 in Stockholm gegründete Selbsthilfeorganisation deutsch-jüdischer Emigranten. Helmut Müssener vom Hugo-Valentin-Zentrum an der Universität Uppsala sowie sein Kollege Michael F. Scholz vom dortigen Institut für Russland- und Eurasienstudien stellen diese erstmalig anhand von Dokumenten wie Rechenschaftsberichten, Rundschreiben, Programmen, Berufslisten und Korrespondenzen sowie Lebensläufen und Leistungen einiger ihrer Protagonisten vor.

In Schweden fanden zahlreiche Menschen aus Nazideutschland Zuflucht. Scholz betont in der Einleitung, dass sie auch dort in rechtlicher und finanzieller Unsicherheit lebten, woraufhin in Medien und privaten Zirkeln Stimmen lauter wurden, die sich für eine humanitäre Lösung auf politischer Ebene aussprachen. Eine dieser Stimmen war Friedrich Salomon »Fritz« Hollander (1915–2004), der bereits 1933 nach Schweden emigriert war. Der Industrielle gehörte zu den Mitgründern und Vorstandsmitgliedern der Emigraternas Självhälp. Er stand mit deutschen Kommunisten wie Karl Mewis und Josef »Willi« Wagner in Kontakt und unterstützte sie auch finanziell. Scholz skizziert die Politik der KPD-Abschnittsleitung in Schweden, die Bildung verschiedener antifaschistischer Plattformen sowie die Diskussionen in diesen. Nach der Pogromnacht vom 9./10. November 1938 in Deutschland riefen 19 Emigranten und schwedische Bürger zur Bildung eines Hilfswerks auf. Einer der Unterzeichner des Aufrufs zur Gründung einer jüdischen Selbsthilfeorganisation war der Sprachwissenschaftler und Kommunist Wolfgang Steinitz (1905-1967).

Im zweiten Kapitel beschreibt Müssener, dessen 1974 publizierte Dissertation »Exil in Schweden« noch heute als Standardwerk gilt, die vielfältigen Aktionen der Emigrantenselbsthilfe, die noch lange nach der Befreiung vom Faschismus fortgeführt wurden. Das letzte schriftliche Dokument der Jüdischen Emigrantenselbsthilfe stammt von 1973. Emigraternas Självhälp gelang es, ein effizientes Migrantennetzwerk zu bilden, Mut zum Weiterleben zu geben, Identität und Selbstbewusstsein der Emigranten zu stärken und sie vielfach die Beschwerden des Alltags im Exil weitgehend vergessen zu lassen. Musik- und Filmabende, Konzerte, Vorträge, Sprachunterricht und Gymnastikkurse gehörten dazu. Sodann widmet sich Scholz der Überwachung führender Persönlichkeiten der Emigrantenselbsthilfe durch schwedische Polizei und Sicherheitsdienste. Ein Unterkapitel widmet sich der spannenden Frage nach Spitzeln und Denunzianten im Umfeld und innerhalb der Organisation. Der schwedischen Geheimen Staatspolizei gelang es beispielsweise, den aus Hamburg stammenden KPD-Funktionär Hugo Willsch (1904-1973) zu rekrutieren.

Schließlich reflektiert Scholz das Selbstbild der Emigrantenselbsthilfe in der Erinnerung einiger ihrer Funktionäre. Auch an Jan Peters (1932–2011) wird erinnert, den Sohn des Physikers Hans-Jürgen Cohn-Peters und von dessen Frau Ruth sowie Neffen von Wolfgang Steinitz, der als Kind und Jugendlicher fast zehn Jahre in der schwedischen Emigration verbracht hatte, Historiker wurde und sich zeitlebens diesem Kapitel der Exilgeschichte verpflichtet gefühlt hatte. Erwähnt werden die Auswirkungen der stalinistischen Parteisäuberungen in der SBZ/DDR und die Schwierigkeiten zurückgekehrter Emigranten bei der Abfassung ihrer Memoiren. Im Anhang findet man unter anderem ein Liste vom Mai 1945, die Mitglieder und Förderer der Emigraternas Självhälp nennt, darunter Kommunisten, die später in Politik, Kultur und Wissenschaft der DDR besonders aktiv waren.

Helmut Müssener/Michael F. Scholz: Die jüdische Emigrantenselbsthilfe in Stockholm (1938–1973). Hilfe durch Selbsthilfe. De Gruyter, 344 S., geb., 79,95 €.

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