Portugal: Rücksichtslose Räumungen in Lissabon

Mit dem Stadtumbau steigen die Mieten in Lissabon, obwohl viele Wohnungen noch immer leer stehen

  • Dario Antonelli und Giacomo Sini, Lissabon
  • Lesedauer: 7 Min.
Der Abrissbagger steht nach der Räumung eines Wohnblocks im Bairro da Jamaica bereit.
Der Abrissbagger steht nach der Räumung eines Wohnblocks im Bairro da Jamaica bereit.

Aus dem Fenster einer Wohnung im fünften Stock, hinter den Silhouetten der Lagerhäuser und Kräne des Hafens, kann man den Tejo sehen, breit wie ein Meer. Das Zentrum von Lissabon liegt jenseits der hohen Wohnblöcke, es scheint weit weg zu sein. Und doch ist es näher, als man denkt. Auch hier im Viertel Penha da França sind die Mieten in die Höhe geschossen. Viele verlassen dieses Arbeiterquartier und ziehen in abgelegenere Gegenden, meistens in die Vororte auf der anderen Seite des großen Flusses.

Bis 2012 hatte Portugal eine Mietpreisbremse für Altverträge, die zwar bezahlbare Mieten sicherte, aber auch dazu führte, dass Hausbesitzer anstehende Sanierungen verschleppten. Die Innenstädte und einige Altbauviertel, in denen meist Arme, Einwanderer, Schwarze oder Roma wohnten, wurden auffallend häufig vernachlässigt.

Während der Wirtschaftskrise hob die konservative portugiesische Regierung die Deckelung der Mieten auf Druck des Internationalen Währungsfonds, der Europäischen Zentralbank (EZB) und der Europäischen Kommission auf, die Portugal einen Kredit gewährten. Die Folge war ein Renovierungsboom. Ganze Stadtviertel wurden auf einmal saniert; die Mieten steigen seitdem rasch, was dazu führt, dass viele Bewohner sich den Wohnraum nicht mehr leisten können und weichen müssen.

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Davon profitiert insbesondere die Reisebranche. Hinweise auf private Unterkünfte für Touristen gehören mittlerweile zum Stadtbild. In Lissabon heißen sie Alojamento Local. 2022 gab es rund 500 registrierte Ferienwohnungen in der Stadt. 2018 waren es bereits 18 000. Möglich geworden sind solche Unterkünfte durch die Aufhebung einer Mindestlaufzeit bei Mietverträgen.

»Ich bin Alcina Lourenço«, sagt die grimmig dreinblickende Frau auf der Bühne vor dem Stadtrat in Lissabon. »Letzten Donnerstag wurde ich zwangsgeräumt, zusammen mit meinem Mann, der an Krebs erkrankt ist, und meinem 89-jährigen Vater, um den ich mich kümmere. Jetzt schlafen wir in einem Alojamento Local, das wir bis nächsten Samstag gemietet haben – dank der Solidarität eines Nachbarn und einer Spendenaktion, die von den Initiativen Stop Despejos und Habita organisiert wurde.« Alcina Lourenço kritisiert, dass die Kommune ihr nicht wie gesetzlich gefordert adäquate Alternativlösungen angeboten habe. »Unser monatliches Familieneinkommen beträgt 1200 Euro«, fährt sie fort. »Das reicht nicht, um im Großraum Lissabon eine angemessene Unterkunft zu finden. Wo sollen wir ab Samstag schlafen?«, fragt sie – und weiß keine Antwort darauf.

In der Rua Arroios 37 ist die Tür geschlossen, drinnen brennt Licht – aber eine Wohnung ist dunkel, und die Fenster sind geschlossen. Seit sie sechs Jahre alt war, lebte Alcina Lourenço hier bei ihrer Tante, der Mieterin. Aus sozialen Grünen betrug die Miete 30 Euro im Monat. Als die Tante starb, weigerte sich der Vermieter, einen neuen Vertrag aufzusetzen, und verlangte die Räumung, obwohl Lourenço bis zu 700 Euro geboten hatte.

Dies ist eine Geschichte, die für Tausende anderer Schicksale in Lissabon steht. Der Mindestlohn liegt in Portugal bei lediglich 760 Euro pro Monat. Und viele erreichen nicht einmal dieses Einkommen. Im Jahr 2021 lebten 16,4 Prozent der Portugiesen von weniger als 554 Euro pro Monat. Das Einkommen reicht häufig nicht für die gestiegenen Mieten. Und die Eigentümer ziehen es oftmals vor, an Touristen oder digitale Nomaden zu vermieten, weil die sich höhere Mieten leisten können – oder sie sind bereit, an Immobilienfonds zu verkaufen. Die Erdgeschosse vieler Gebäude werden von Restaurants, Luxusgeschäften oder Filialen großen Marken eingenommen, während die oberen Etagen menschenleer sind.

Nur wenige Gehminuten von der U-Bahn-Station Intendente entfernt befindet sich das Sozialzentrum Sirigaita. Hier trifft sich die Initiative Stop Despejos. »Als ich 2011 in Lissabon ankam, gab es keine Arbeit in der Stadt, dafür viele Wohnungen, die sehr wenig kosteten«, erklärt Antonio Gori, der sich bei Stop Despejos engagiert. »Die Regierung suchte im Zuge der Wirtschaftskrise nach einer Möglichkeit, sich für Tourismus und Immobilienfonds zu öffnen. Mit der Liberalisierung des Mietmarktes 2012 und der Ankunft von Ryanair in Lissabon im Jahr darauf begann sich die Situation dann rasant zu ändern.«

Bis vor sechs oder sieben Jahren habe sich der Kampf um Wohnraum noch auf das Engagement gegen die Räumung von Barackensiedlungen fokussiert, erzählt Antonio Gori. »Wir haben uns für menschenwürdige Lebensbedingungen in den Vororten eingesetzt. Aber seit 2017 konzentrieren wir uns auf Zwangsräumungen im Zentrum.« Die Situation sei brisant: »80 Prozent der Portugiesen leben zwar in einem Eigentumshaus, aber von denen haben 90 Prozent eine Hypothek mit variablen Zinssätzen. Im Oktober hat die Europäische Zentralbank beschlossen, die Zinsen nicht zu erhöhen, aber wer weiß.« Er befürchtet, dass eine Zinserhörung noch kommen kann.

Auch die Lissabonner Kommunalverwaltung versucht inzwischen auf die Wohnungsnot zu reagieren. Bürgermeister Carlos Moedas bezeichnete die Wohnungsfrage als »die größte Herausforderung, vor der wir derzeit stehen«. Der Innenstadtbereich, einschließlich des Viertels Arroios, wird in der städtischen Wohnungscharta mittlerweile als »Bereich höchster Priorität« eingestuft. Dort sei der Druck der Verdrängung besonders hoch. Insbesondere das Alojemento Local wird kritisch gesehen und soll nach Möglichkeit eingedämmt werden. Auch das Preisniveau müsse wieder dem Einkommen der Familien angepasst werden, heißt es in der Charta. Landesweit hat Portugal im September 2022 wieder eine Mietpreisbremse eingeführt, die abhängig von der Inflation ist. Die Mieten durften im vergangenen Jahr nicht mehr als zwei Prozent angehoben werden.

Das Lokal Churrasqueira ist kurz vor der Schließung, und der Kellner im weißen Hemd bringt zum Ende des Mittagessens Kaffee an den Tisch. »Auf der einen Seite wird das Stadtzentrum von internationalen Immobilienfonds eingenommen, die die Häuser lieber leer stehen lassen«, erklärt Francesco Biagi von Stop Despejos. 45 000 verwaiste Häuser werden im Stadtgebiet von Lissabon gezählt. »Auf der anderen Seite sehen wir gewaltsame Zerstörungen von Barackensiedlungen wie in Talude in der Nähe des Flughafens, wo die Bewohner, meist Roma, dann oft ohne Alternative dastehen.« Hilfsorganisationen schätzen, dass 14 000 Familien in Lissabon keine gesicherte Unterkunft haben.

Auch im Bairro da Jamaica in Seixal, jenseits des Tejo, fand eine Räumung statt. »Der Polizeiaufmarsch war schrecklich«, erinnert sich Francesco Biagi an den 17. Oktober. »Etwa einem Drittel der Bewohner wurde keine alternative Unterkunft angeboten. Mehrere Familien mit kleinen Kindern wurden obdachlos auf der Straße zurückgelassen.« Das Bairro da Jamaica wurde Mitte der 80er Jahre gebaut. Das Unternehmen, das auf diesen Grundstücken Eigentumswohnungen schaffen wollte, ging aber pleite. Menschen zogen trotzdem in die unfertigen Gebäude ohne Strom und Kanalisation und stellten die Wohnungen selbst fertig. Das gab es in jenen Jahren oft. So entstanden in den Vororten notdürftige Quartiere, und verfallene Gebäude im Zentrum der Stadt wurden besetzt.

»Die Zwangsräumungen und Abrisse in Bairro da Jamaica folgen dem Umsiedlungsprogramm PER, das auf das Jahr 1993 zurückgeht, erklärt Ana Rita Alves, Mitarbeiterin am Zentrum für Sozialstudien der Universität Coimbra. «Aber nur wenige Familien bekamen das Angebot für eine Ersatzwohnung.» Der Grund dafür liegt in der Volkszählung: Nicht alle Menschen, die dort lebten, sind erfasst worden. «Diejenigen, die registriert waren, hatten das Recht auf eine neue Wohnung. Die Behörden nutzten diese Ungleichheit, um die Einwohner zu spalten», erzählt Alves. Diese Räumungen seien nur von Aktivisten angeprangert worden, in Lissabon hätten sie keine Welle der Empörung hervorgerufen. Wohl weil es sich um Migranten handele, mutmaßt sie, die in Portugal seit jeher marginalisiert werden.

Inzwischen gibt es in Lissabon ein neues Umsiedlungsprogramm von 2017, womit der Stadtumbau massiv forciert wird. «Es geht darum, zahlungskräftige Investoren zu finden und Prestigeobjekte aus dem Boden zu stampfen, und nicht um eine bessere Wohnsituation der Alteingesessenen», kritisiert Ana Rita Alves. «Das gilt im Zentrum genauso wie für die Vororte.» Häufig werden Wohnblocks, in denen eher einkommensschwache Menschen leben, abgerissen, um Platz für Neubauten zu schaffen. Ob die neue Mietpreisbremse oder die im Oktober verabschiedete Lissabonner Wohnraumcharta diese neoliberalen Auswüchse nennenswert lindern können, bleibt abzuwarten.

Alles, was vom Bairro da Jamaica geblieben ist, sind ein paar Mauern und ein entkerntes Gebäude, das noch bewohnt ist. Als wir an einer großen Pfütze vorbeigehen, hält ein altes Auto: «Sie haben alles niedergerissen, nur diese zwei Blöcke sind übrig geblieben», sagt ein Mann durchs geöffnete Fenster. «Rechts sind noch einige Familien mit Kindern.» Auf dem Boden liegen Trümmer, Lumpen, zerbrochene Puppen, Ziegelsplitter und farbige Fliesenfragmente. Der Abbrucharm eines großen Baggers liegt auf dem Boden. Abgestellt – wie bei einem Waffenstillstand. «Ich muss sagen, dass sie ja inzwischen durchaus versuchen, alternative Lösungen anzubieten. Es ist nicht mehr so, wie früher. Aber Jamaica ist unsere Heimat, wir wollen hierbleiben», sagt der Mann mit einem wehmütigen Lächeln.

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