Wettlauf zwischen Preisen und Löhnen in Europa

Zwar geht die Inflationsrate zurück, insbesondere Lebensmittel verteuern sich aber rasant. Woran liegt das - und wann sinkt endlich der Preisdruck?

Preiserhöhungen der Unternehmen haben tiefe Löcher in die Budgets der privaten Haushalte in Europa gerissen. Allerorten ist die Kaufkraft gesunken. Zwar geht die Inflationsrate inzwischen deutlich zurück, die Preise klettern langsamer – aber sie klettern weiter. Das bemerken die Verbraucher*innen vor allem im Supermarkt: Insbesondere Lebensmittel verteuern sich rasant und das trotz sinkender Weltmarktpreise für Agrarrohstoffe. Der Wettlauf zwischen Preisen und Löhnen hält also erst einmal an. Laut den aktuellen Prognosen wird sich die Lage wohl erst im nächsten Jahr wieder etwas aufhellen.

Bereits seit langem bilanzieren die Lohnabhängigen in Europa einen Rückgang ihrer realen Einkommen. Schon im Jahr 2021 blieben die Lohnsteigerungen hinter der Inflationsrate zurück, was die Reallöhne laut Sachverständigenrat um durchschnittlich 2,3 Prozent sinken ließ. Dieser Rückgang setzte sich im vergangenen Jahr fort, in vielen Ländern in verschärfter Form. Die Inflationsrate in der EU erreichte im Jahresdurchschnitt über neun Prozent, die Stundenlöhne hingegen legten nur um 4,4 Prozent zu.

Zwar wurden die Reallohnverluste teilweise durch staatliche Hilfen aufgefangen. Dennoch betrug der Kaufkraftverlust in der EU laut Berechnungen von Allianz Research in Irland 1,1 Prozent, Portugal und Spanien kamen auf knapp vier Prozent. Ein krasser Fall ist Ungarn, wo die Stundenlöhne zwar um 16 Prozent zulegten, die Inflationsrate aber 26 Prozent erreichte, was den Ungarn einen Kaufkraftverlust von über neun Prozent brachte. Eine Ursache der hohen Inflation gerade in Osteuropa ist laut Allianz der große Anteil der Nahrungsmittelimporte, die sich stark verteuert hätten.

Doch inzwischen wird wieder Hoffnung geschöpft: Im Oktober 2022 hatte die Inflationsrate in der Eurozone mit 10,6 Prozent ihr Hoch erreicht und geht seitdem stetig zurück. Im März betrug sie noch 6,9 Prozent, wobei es sich bei diesem Wert um einen Durchschnitt handelt. Die Raten lagen zwischen 2,9 Prozent in Luxemburg und 17 Prozent in Lettland.

Was den Einkauf so teuer macht

Getrieben werden die Preise nicht länger von Energieprodukten, die sich gegenüber März 2022 sogar etwas verbilligt haben. Preistreiber ist mittlerweile die Güterkategorie »Lebensmittel, Alkohol und Tabak«, die sich um 15,5 Prozent verteuerte, das »war der höchste Wert seit Beginn der Währungsunion«, kommentierte die Commerzbank. Das bekommen die Haushalte schmerzlich zu spüren, schließlich sind in einem durchschnittlichen Haushaltsbudget Lebensmittel mit einem Anteil von 17 Prozent der zweitgrößte Posten nach den Ausgaben für Wohnen und Energie, die knapp ein Drittel ausmachen.

Von der Gesamtinflationsrate von 6,9 Prozent gehen daher über drei Prozentpunkte auf das Konto der Lebensmittel. Das ist zunächst erklärungsbedürftig. Als Ursache steigender Lebensmittelpreise galt lange der russische Angriff auf die Ukraine und die infolgedessen erwartete Verknappung des globalen Angebots an Weizen und anderen Agrarrohstoffen. Tatsächlich waren die Nahrungsmittelpreis-Indizes der Welternährungsorganisation FAO in den Monaten nach der Invasion stark gestiegen. Inzwischen aber sind sie regelrecht abgestürzt. Der Gesamtindex der Agrarrohstoffe verzeichnete im März seinen zwölften Rückgang in Folge. Heute liegt er 20 Prozent unter seinem Wert vom März 2022 und damit wieder auf dem Stand vom Sommer 2021 – lange vor der Invasion der Ukraine. Stark verbilligt haben sich auch Weizen und andere Getreide. Angesichts des großen Angebots auf dem Weltmarkt liegt ihr Preisindex inzwischen wieder auf dem durchschnittlichen Stand von 2021.

Dennoch kostet der Einkauf im Supermarkt immer mehr. Allianz Research erklärt dies zum einen damit, dass die Agrarrohstoffpreise zwar gesunken sind, verteuert haben sich aber die Produktionsmittel: Erdöl, Elektrizität, Verpackungsmaterialien wie Glas, Papier und Plastik sowie die Lohnkosten. Zum anderen erhöhen die Händler wieder ihre Profite. In den Monaten nach der Invasion hätten sie nur einen Teil der gestiegenen Kosten an die Kunden weitergegeben – so erhöhten in der EU die Nahrungsmittelproduzenten im vergangenen Jahr ihre Preise um 17 Prozent, die Händler aber nur um zwölf Prozent, was ihnen Einbußen bei den Gewinnen bescherte. Inzwischen steigen die Produzentenpreise nicht mehr stark und der Handel holt sich seine Profite durch Preiserhöhungen zurück. An der Börse wird das honoriert. So hat der Aktienindex der Nahrungsmittelhändler in Großbritannien gerade ein Rekordhoch erreicht.

Mit den teuren Lebensmitteln müssen Europas Verbraucher wohl noch eine Weile zurechtkommen. »Die Preise werden bis zum Sommer weiter steigen und dann auf hohem Niveau verharren«, so die Analysten von Allianz Research. Im Durchschnitt des gesamten laufenden Jahres würden sich Nahrungsmittel um acht Prozent verteuern. Erst im kommenden Jahr sei wieder mit Preisrückgängen im Supermarkt zu rechnen.

Löhne dürften erst 2024 real wieder steigen

Für die Gewerkschaften in Europa bleibt also viel zu tun, um die Kaufkraftverluste zumindest zu begrenzen. Laut deutschem Sachverständigenrat sind die Bedingungen dafür nicht mehr so schlecht. »In den nächsten Jahren werden wir stärkere Lohnsteigerungen sehen als in den vergangenen zehn Jahren«, schreiben die Ökonom*innen. Dies liege zum einen an der hohen Inflation, die den Druck erhöht. Zum anderen stärkten die niedrigen Arbeitslosenraten und der Arbeitskräftemangel die Verhandlungsposition der Lohnabhängigen. Und schließlich seien auch die Mindestlöhne gestiegen, was das gesamte Lohngefüge tendenziell nach oben heben könnte. Die Europäische Zentralbank (EZB) geht in ihren Projektionen davon aus, dass in der Eurozone die Tariflöhne im laufenden Jahr um etwa 5,25 Prozent steigen werden, gefolgt von 4,5 Prozent im kommenden Jahr.

Das bedeutet allerdings auch höhere Kosten für die Unternehmen, gerade im Dienstleistungsbereich, wo Löhne rund 40 Prozent der Produktionskosten ausmachen. Diese Kostensteigerungen werden sich die Unternehmen über Preiserhöhungen voraussichtlich zurückholen. »Gerade bei Dienstleistungen dürfte der Inflationsdruck auf absehbare Zeit hoch bleiben«, prognostiziert die Commerzbank.

Für die Gesamtinflationsrate bedeutet das, dass sie im laufenden Jahr noch deutlich über dem Zielwert der EZB von knapp unter zwei Prozent bleiben wird. In ihrer jüngsten Projektion gehen die Zentralbanker von einer durchschnittlichen Inflationsrate von 5,3 Prozent im laufenden Jahr aus, die EU-Kommission rechnet sogar mit 6,1 Prozent. Für das nächste Jahr veranschlagt die Zentralbank die Teuerungsrate mit 2,9 Prozent und geht für 2025 von 2,1 Prozent aus. Echte Reallohnsteigerungen für Europas Arbeitnehmer*innen sind daher im Durchschnitt wohl erst wieder im kommenden Jahr zu erwarten.

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