Weg von der Straße: Erst die Wohnung, dann alles andere

Sozialprogramm »Housing First« kann Menschen in Berlin langfristig vor der Obdachlosigkeit schützen

  • Moritz Lang
  • Lesedauer: 3 Min.

»Wir brauchen Wohnungen«, fordert Christin Weyershausen vom Sozialdienst katholischer Frauen am Donnerstag im Ausschuss für Frauen und Gleichstellung des Abgeordnetenhauses. Sie ist Teamleiterin des »Housing First«-Projekts für Frauen und betrachtet das Konzept als vollen Erfolg, für den es Regelfinanzierung und höhere Mittel braucht.

Soziale Träger schätzen, dass rund 2500 obdachlose Frauen in Berlin auf der Straße leben. Die Zahl der Wohnungslosen, die nicht in jedem Fall auf der Straße schlafen, wird auf 50 000 geschätzt – doppelt so viele, wie noch 2022. Frauen sind dabei stärker gefährdet: »Viele kommen mit Gewalterfahrungen aus Partnerschaften zu uns«, so Weyershausen. Es gebe immer mehr psychische Belastung und Erkrankung.

»Eingliederungshilfen sind zu hochschwellig, die meisten, die zu uns kommen, schaffen es nicht, sich am System zu bedienen«, sagt Weyershausen. Dazu gehört das geschützte Marktsegment (GMS): Hier werden Wohnungen von Wohnungsunternehmen zur Vermittlung an Wohnungslose bereitgestellt. Berechtigt sind diese jedoch erst mit Wohnberechtigungsschein und Anbindung an eine soziale Einrichtung.

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Der »Housing First«-Ansatz will statt eines stufenbasierten Modells mit der eigenen Wohnung ganz am Ende diesen Schritt an den Anfang stellen. In Finnland wird dies seit Jahren mit großem Erfolg umgesetzt. Die Freiwilligkeit von Betreuungsangeboten betrachtet Weyershausen dabei als wichtig: »Sobald es einen Zwangskontext gibt, verabschieden sie sich.« Die Finanzierung dürfe deshalb auch nicht personenbezogen an die Wahrnehmung von Terminen geknüpft sein.

»Heute wurde der 91. Mietvertrag unterschrieben«, sagt Weyershausen. Man habe eine Wohnstabilität von 96 Prozent, nur drei Frauen seien bisher wieder ausgezogen. 2018 starteten auch in Berlin Modellprojekte; fast alle der untergebrachten Menschen waren nach drei Jahren noch in ihren Wohnungen – im internationalen Vergleich eine sehr gute Quote. Heute gibt es sechs verschiedene Projekte, davon eines auch für queere Menschen.

Private Wohnraumbewirtschaftung steht dem Schutz von Obdachlosen jedoch im Wege: Nach der Übernahme der Immobilienfirma GSW war Vonovia verpflichtet, 230 Wohnungen für das GMS bereitzustellen; vergangenes Jahr waren es allerdings nur 60. Und auch den Sozialdienst katholischer Frauen trifft es: Er ist Träger der Notunterkunft »Evas Obdach« – das Haus wurde aber verkauft, die Wohnungen sollen in Eigentumswohnungen umgewandelt werden. Ein Kauf ist für den Träger nicht finanzierbar.

Andererseits lobt Weyershausen auch die Zusammenarbeit mit privaten Vermietern: Von Vonovia habe man ein Kontingent von 20 Wohnungen im Jahr für »Housing First« bekommen. Dass dies aus humanistischen Motiven geschieht, ist indes zu bezweifeln: »Vermieter haben mit uns immer einen Ansprechpartner«, so Weyershausen. Außerdem können Wohnungen mit 20 Prozent höheren Bruttokaltmieten als in anderen vom Sozialamt getragenen Bereichen übernommen werden.

Im »Housing First«-Projekt müsse man auch eine eigene Handwerkerin beschäftigen. »Uns werden viele Wohnungen in enorm renovierungsbedürftigem Zustand angeboten«, so Weyershausen. 200 Euro Renovierungspauschale vom Jobcenter reichten bei Weitem nicht aus: »Wir haben Frauen mit Kindern, die in Wohnungen leben, die faktisch keinen Boden haben.«

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