Antisemitimus: »Israel ist eine Lebensversicherung«

Die Autorinnen Nea Weissberg und Alexandra Jacobson über jüdisches Leben nach dem 7. Oktober 2023 und die Bedeutung des Staates Israel

  • Interview: Karsten Krampitz
  • Lesedauer: 6 Min.
Die Autorinnen Nea Weissberg (links) und Alexandra Jacobson (rechts) haben kürzlich das Buch »Schabbat im Herzen – Sehnsucht nach Zugehörigkeit« veröffentlicht.
Die Autorinnen Nea Weissberg (links) und Alexandra Jacobson (rechts) haben kürzlich das Buch »Schabbat im Herzen – Sehnsucht nach Zugehörigkeit« veröffentlicht.

Frau Weissberg, Frau Jacobson, »Schabbat im Herzen« heißt der Titel Ihres Buches. Ein wenig kitschig, oder?

Alexandra Jacobson: Überhaupt nicht. »Schabbat im Herzen« ist für mich eine wichtige Erinnerung. Das Wort stammt aus einem Brief, den meine Großmutter 1939 nach Ecuador geschrieben hat, wo ihre beiden Töchter waren. Meine Mutter und meine Tante waren schon emigriert, und meine Großmutter lebte damals in Boppard am Rhein. Das Schönste von der Woche, schrieb sie, sei der Freitagabend: Schabbat in der Wohnung und Schabbat im Herzen, »dann bin ich immer mit meinen Gedanken bei euch und segne euch.« Und das ist eben kein Kitsch, sondern Ausdruck einer tiefen Gläubigkeit und der Verbundenheit mit ihren Töchtern, die damals 10 000 Kilometer entfernt gelebt haben. Ihr Gottvertrauen hat meine Großmutter bis zur Deportation im April 1942 und vermutlich bis zu ihrer Ermordung im Vernichtungslager Sobibor beibehalten.

Nea Weissberg: »Schabbat im Herzen« mit dem Untertitel »Sehnsucht nach Zugehörigkeit« steht für mich für die Liebe zum Judentum als fester Bestandteil im Herzen, obwohl ich als Jüdin nicht religiös lebe, aber der jüdischen Tradition und der jddischen Sprache sehr zugeneigt bin. Meine Eltern waren polnische Juden, die die Shoah im zentralasiatischen Teil der Sowjetunion überlebt haben. Im Buch suchen wir Antworten auf die Fragen: Wie sehr berühren judenfeindliche Hass- und Gewalterfahrungen die jüdische Gegenwart? Wie lässt sich jüdisches Leben in Deutschland stärken? Wie leben säkulare Juden oder Vaterjuden? Das Herz auf dem Cover deutet einen Riss an und nur eine der Schabbat-Kerzen leuchtet …

Interview

Nea Weissberg, in Berlin als Tochter polnischer Juden geboren, ist Pädagogin und Autorin. Sie gründete 1993 den Lichtig-Verlag, in dem sie Bücher verlegt, um den Dialog zwischen jüdischen und nicht­jüdischen Deutschen mitzuinitiieren.
Alexandra Jacobson, in San José, Costa Rica, als Tochter deutscher Juden geboren, ist Journalistin und lebt in Berlin. Von den beiden ist im September 2023 das Buch »Schabbat im Herzen – Sehnsucht nach Zugehörigkeit« erschienen.

Und warum?

Weissberg: Wenn Judentum – aus unterschiedlichen Gründen – nicht mehr in der Familie gelebt wird oder nicht mehr gelebt werden durfte, was bräuchte es, um es zu beleben? Der Titel mag auf Sie märchenhaft wirken, ist aber provokant gemeint. Es geht um Juden, Jüdinnen, die nahezu ohne Tradition aufwuchsen, die weder orthodox noch liberal religiös leben, die keine Synagoge am Schabbat besuchen.

Jacobson: Ich finde es unglaublich berührend, dass so viele Juden in Deutschland vor der Deportation gläubig waren. Das hat sie nicht gerettet. Aber es gab damals noch eine viel engere Beziehung zu Gott und zum Judentum, die uns verlorengegangen ist. In unserem Buch sagt Rabbi Rothschild diesen wunderbaren Satz: Die deutschen Juden heute glauben nicht mehr an Gott. Sie gehen in die Synagoge, weil sie einen sozialen Zusammenhalt wollen, aber nicht um zu beten. Das ist ein großer Unterschied zu früher.

Weissberg: Kann man »Schabbat im Herzen« tragen, an Gott glauben, nach Auschwitz? Kann man Jude-Sein ohne Religion? Sich emotional, ethnisch und kulturell dem jüdischen Volk zugehörig fühlen?

Gabriel Berger, 80 Jahre alt, Physiker und ehedem Jude aus der DDR, schreibt in Ihrem Band, dass hierzulande die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft der Meinung ist, das Judentum sei eine Religion wie jede andere, und eine Religion brauche eben keinen eigenen Staat …

Weissberg: Juden und Jüdinnen gehören historisch einer nationalen Gemeinschaft an. Mein Gefühl der Zugehörigkeit zum jüdischen Volk entstand in der Familie – geprägt von Religion, Tradition und Kultur.

Was bedeutet Ihnen Israel?

Weissberg: Meine Geschwister und ich fuhren das erste Mal nach Israel, da war ich 16 Jahre alt. Israel steht für Familie, für Zuneigung, für eine Lebensversicherung, weil du als Jüdin und als Jude dort aufgenommen wirst. Für mich ist klar, die Judenheit in der Diaspora – ob sie will oder nicht – ist mit dem Bestehen Israels verbunden.

Jacobson: Ich denke, es gibt unter den Juden in Deutschland seit dem 7. Oktober wieder eine stärkere Hinwendung zu Israel. Gerade lese ich die neu herausgegebenen und sehr aktuellen Aufsätze von Jean Améry, der ein Linker war, Auschwitz überlebt hatte und 1978 Selbstmord beging. Er hat stark darunter gelitten, dass viele Linke die Bedeutung Israels für die Juden nicht anerkannt haben, sondern Israel und den Zionismus mit einem ideologischen Furor bekämpften, der ihn an den fanatischen Antisemitismus der Nazizeit erinnerte. Améry sagt: Ganz egal, was Israel für eine Politik macht – mit der er oft nicht einverstanden war und die er kritisierte –, es ist das einzige Land auf der Welt, in der der Jude sich das Eigenbild nicht von den Vorurteilen der Umwelt aufprägen lassen muss, der einzige Raum ohne Antisemitismus. Dabei ist Améry nur einmal in seinem Leben hingereist.

Mit welchem Eindruck?

Jacobson: Es war ihm zu staubig, zu heiß, zu religiös. Und trotzdem hat er Israel mit Zähnen und Klauen verteidigt, aus seiner Erfahrung heraus, wegen Auschwitz.

Ihr Buch ist kurz vor dem 7. Oktober erschienen. Wie hat sich dieser Tag auf Ihr Leben in Deutschland ausgewirkt?

Jacobson: Es hat sich stark verändert, weil der Antisemitismus so unübersehbar deutlich wurde. In Neukölln haben Hamas-Anhänger am 7. Oktober Süßigkeiten verteilt und bei den ersten Pro-Palästina-Demonstrationen wurde auch »Tod den Juden« gerufen. Und die deutsche Zivilgesellschaft hatte Schwierigkeiten, Solidarität mit Juden zu zeigen. Besonders bei den kulturellen Eliten herrschte zunächst Funkstille. Die meisten Solidaritätskonzerte wurden von Juden selber initiiert. Das fand ich deprimierend. Eine rühmliche Ausnahme ist Cottbus, wo das Staatstheater sehr früh zu einem Gedenkkonzert für die Opfer des Hamas Massakers eingeladen hat.

Weissberg: Mein eigener Beitrag im Buch schließt gegen Ende mit dem Satz: »Wenn der Staat Israel im Kriegsfall strategisch nicht das Feld behaupten und besiegt werden würde, könnte eine noch hemmungslosere antisemitische und antiisraelische Hass-Welle Europa erfassen.« Nach dem von den Hamas-Terroristen verübten Pogrom am 7. Oktober 2023 im Süden Israels ist deutlich, wie die Bedrohungen um einen herum explosiv wachsen, hemmungsloser Vernichtungshass macht sich ungeniert weltweit im Internet und auf den Straßen breit.

Reden Sie mit anderen darüber?

Weissberg: Kürzlich war ich bei einem Treffen von Juden aus Israel, die hier leben. Da konnte ich offen von meinen Gefühlen sprechen, von meiner Angst seit dem 7. Oktober, meinem anfänglichen inneren Rückzug, meiner Empörung, meiner Traurigkeit. Ich habe etliche Kontakte beendet. Jedes »Ja, aber …«, wenn Bekannte herzlos und hart – ohne einen Funken Mitgefühl – auf die Ermordungen, Zerstückelungen, Verbrennungen und massenhaften Vergewaltigungen und Geiselnahmen von Menschen in Israel reagiert haben, war für mich ein »Auf Wiedersehen!«

Und die anderen bei dem Treffen?

Weissberg: Die Israelis haben erzählt, dass sie ihr Handy auf Englisch umgestellt haben und überhaupt, dass sie in der Öffentlichkeit kein Hebräisch mehr sprechen. Sie wollen einfach nicht riskieren, angegriffen zu werden. Sie gehen auch nicht mehr – was sie so geliebt haben – bei Arabern oder Türken Humus essen. Diese Menschen sind zum ersten Mal konfrontiert mit einer tiefen Angst vor ungebremster Feindseligkeit, die wir, die Second Generation, die nach der Shoah Geborenen, von kleinauf kennen.

Und was ist mit der Jüdischen Gemeinde?

Jacobson: Ich will wieder mehr in die Synagoge gehen, also dort eine Gemeinschaft suchen und finden, mit der ich auch über die neue Angst sprechen kann. Ich habe auch eine große Angst um die Geiseln, die noch von den Hamas-Terroristen festgehalten werden. Für die möchte ich gerne beten – in einer Synagoge, die dem liberalen Reformjudentum nahesteht.

Weissberg: Ich fühle ich bei Rabbiner Yehuda Teichtal von der Jüdischen Gemeinde Chabad aufgehoben. Wenn ich ihn brauche, ist er da.

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